
Studentenjob in Fixerstube: Der Abgrund hinterm Fenster
Arbeitsplatz Fixerstube Ein Job für Junkies
Da ist der Typ mit den dunklen Haaren, der seine Jacke ordentlich über die Stuhllehne hängt, bevor er sich einen Schuss setzt. Da ist die Frau mit den sehnigen Armen, die gedankenverloren in den Rauch ihrer Crackzigarette starrt. Da ist der Mann, der seine Hose runterlässt und mit nacktem Hintern dasteht, um sich den Stoff in den Oberschenkel zu injizieren. Da sind all diese Süchtigen mit ihrem kranken Leben und ausgemergeltem Körper.
Es ist schwer, ihren Anblick zu ertragen.
Dominic Ortmanns, ein Psychologiestudent mit langem Bart und Mütze, tut es mindestens zweimal die Woche. Andere Studenten ziehen im Supermarkt Strichcodes über den Scanner oder zapfen abends Bier in der Kneipe. Ortmanns arbeitet im Drogenkonsumraum der "Suchthilfe Direkt GmbH" in Essen, einem von insgesamt 23, die es in Deutschland gibt.
Die "Fixerstuben" wurden erfunden, um Junkies zumindest hygienische Bedingungen für ihren regelmäßigen Schuss zu bieten. Ortmanns verteilt saubere Spritzen, Nadeln und anderes Zubehör an die Süchtigen, damit sie sich kein HIV, Hepatitis C oder eine Blutvergiftung einfangen. Dann beobachtet er sie beim Konsumieren des Stoffs, den sie sich selbst mitbringen müssen. Der Student passt auf, dass sie nicht an einer Überdosis sterben.
"Die meisten Leute sagen: Ach, diese Junkies sind doch selbst schuld. Ich meine: Niemand hat sich bewusst dafür entschieden, ein Leben lang an der Nadel zu hängen, abhängig zu sein und alles Negative zu ertragen, was damit einhergeht", sagt Ortmanns.
Es geht nicht um den Kick
Er spricht mit ruhiger Stimme. Zwischendurch räuspert er sich oft oder rückt seine Mütze zurecht, auch dann, wenn sie nicht verrutscht ist. Als eine Kollegin ihn darauf anspricht, dass er gerade Vater von Zwillingen geworden ist - "dat schafft nich jeder" -, wird er rot.
Ortmanns ist 33, hat Mediengestaltung gelernt und eine Ausbildung zum Fotografen gemacht, bevor er vor fünf Jahren den Nebenjob bei der Suchthilfe annahm und anschließend begann, Psychologie zu studieren.
Wenn er Schicht hat, sitzt er vor einem Fenster, durch das er in den Druckraum schauen kann. Darin: weiß gekachelte Wände, rote Plastikstühle, eine Metallablage, auf die die Süchtigen Spritzen, Nadeln und Einwegpfannen zum Heroinkochen legen können. An der Wand hängt ein Plakat mit 13 Regeln, die jeder zu befolgen hat. Eine lautet: "Der Konsumplatz muss nach Gebrauch gereinigt und die benutzten Materialien müssen in die dafür aufgestellten Behälter entsorgt werden."
Durch das Fenster sieht Ortmanns jetzt, wie sich ein Mann den Arm abbindet, eine Vene sucht und die Nadel in die Haut sticht. Dann drückt er, bedächtig. Im Film würde er jetzt befriedigt in die Stuhllehne zurückfallen, vielleicht umkippen, die Augen schließen, man sähe ihm den Kick auf jeden Fall an.
Der Typ mit den dunklen Haaren sieht aber gar nicht befriedigt aus, er zieht die Nadel aus der Haut, wirft das Besteck in den gelben Mülleimer und desinfiziert seinen Platz. Dann packt er sein restliches Heroin wieder ein, nimmt die Jacke von der Stuhllehne, steht auf und geht. "Tschüss", sagt er zum Abschied.
"Das hat mich anfangs irritiert", sagt Ortmanns. "Dass die meisten nur konsumieren, um ihre Symptome zu lindern, und nicht, um den Kick zu spüren." Dann erzählt er die Geschichte von einem Abhängigen, der seit 20 Jahren dem ersten Schuss hinterherrennt. Einem Glücksgefühl, das er danach nie wieder erreicht hat. Und wahrscheinlich auch nie mehr erreichen wird.
"Klar hatte ich Angst vor dem ersten Einsatz"
In dem Raum mit dem Panoramafenster darf Ortmanns nie allein arbeiten. Immer müssen mindestens zwei Mitarbeiter da sein, um bei einer Überdosierung oder einem Schock helfen zu können. "Klar hatte ich Angst vor dem ersten Einsatz, die hat jeder", sagt Ortmanns, "aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich eigentlich nicht sehr viel falsch machen kann. Ich muss den Krankenwagen rufen und dafür sorgen, dass der Klient Luft bekommt." Die Beatmungsmaske und das Gerät, mit dem man die Sauerstoffsättigung in der Atemluft messen kann, liegen in einer grauen Plastikbox oben im Regal.

Ausgabe 5/2014
Mama ruft an!
Wenn Eltern klammern und Studenten Heimweh haben
Vorn an der Ausgabetheke steht jetzt ein Mann mit ausdruckslosem Gesicht und dunklem Blouson. "Hi", sagt Ortmanns Kollegin, "hallo", antwortet der Mann und nennt seinen Namen. Rund 3500 Abhängige sind in der Kartei registriert, sie haben eine Vereinbarung mit der Suchthilfe Essen unterschrieben und Angaben zu Wohnort und Erkrankungen gemacht. In der Kartei wird auch vermerkt, wie oft jemand konsumiert, wann und was.
Ortmanns Kollegin tippt auf der Tastatur herum: "Du warst doch heute schon mal hier", sagt sie. Der Mann bekommt trotzdem eine Spritze. Es geht im Drückerraum darum, die Abhängigen vor Krankheiten zu schützen, nicht darum, sie von ihrer Sucht zu befreien.
Am Anfang versuchte Ortmanns noch, sich in die Klienten hineinzuversetzen und zu verstehen, wie sie hineingeraten konnten in diesen Abgrund. Inzwischen weiß er, dass es unmöglich ist, das zu ergründen. Was ihm noch immer sehr nahegeht, sind die 18- oder 19-Jährigen, die kommen. Er befürchtet, dass sie rund um die Einrichtung die falschen Leute kennenlernen und weiter in die Szene abrutschen.
Im Drogenkonsumraum und auf dem Gelände der Suchthilfe darf legal konsumiert, aber weder gedealt noch geteilt werden. Um das zu tun, gehen die meisten Junkies einfach ein paar Meter weiter, die Straße hoch oder runter. Jetzt, gegen Mittag, sitzen schon viele draußen, sie trinken Bier, unterhalten sich. Die meisten haben sonst niemanden mehr.
Mit Alkohol in die Drogenkarriere
Nicht alle, die sich hier treffen, sind schon seit ihrer Jugend drogenabhängig. Viele gehörten mal zur Mittelschicht. Sie hatten einen Job, eine Wohnung, manche auch eine Familie. Einer ist dabei, der zwei Häuser geerbt hatte. Den Gegenwert der Immobilien hat er inzwischen komplett für Drogen ausgegeben, soweit Ortmanns weiß. "Er dachte wohl, dass er vorher stirbt. Ist er aber nicht. Jetzt hat er nichts mehr und braucht trotzdem seine Drogen."
Wie die Abhängigen den Stoff bezahlen, ist Ortmanns oft ein Rätsel. Am Anfang des Monats sei immer viel los, sagt er. Da bekommen viele ihr Geld vom Amt. Frauen prostituieren sich häufig, Männer klauen. "Beschaffungskriminalität" nennt das die Polizei.
Wenn man Ortmanns fragt, welche Droge er für die gefährlichste hält, muss er nicht lange überlegen: "Die schlimmste Droge ist Alkohol", sagt er. "Wenn man Heroin oder Kokain nimmt, muss man sich im gesellschaftlichen Schatten bewegen. Trinken ist billig und geht immer, sogar öffentlich."
Ortmanns fällt kein einziger Klient ein, der nicht zusätzlich noch säuft, und viele sind mit Alkohol in ihre Drogenkarriere gestartet. Einmal im Jahr gibt es im Café der Suchthilfe eine Gedenkfeier für all diejenigen, die sich zugrunde gerichtet haben und gestorben sind.
In Ortmanns Raum mit dem Panoramafenster riecht es jetzt nach geschmolzenem Käse, seine Kollegin hat sich eine Pizza aufgebacken, irgendwo läuft ein Radio. Im Drückerraum setzt sich ein Mann seine Spritze. Wer nicht hier arbeitet, für den mag es grotesk erscheinen, dass man bei diesem Anblick essen kann und Musik hört. Aber es ist eben auch Alltag.