Türkische Soziologin Verbannt in Berlin

Sie unterschrieb einen Friedensappell an die türkische Regierung - und verlor ihren Job als Dozentin in Istanbul. Nun lebt Asli Vatansever im deutschen Exil. Wie geht es ihr?
Asli Vatansever

Asli Vatansever

Foto: SPIEGEL ONLINE

Es war ein Satz, der den Rektor ausrasten ließ. Asli Vatansever, 37, hängte ihn vor mehr als einem Jahr an ihre Bürotür in der privaten Dogus-Universität in Istanbul. Er ging so: "Ihr Richter und angeblichen Wissenschaftler dieses Staates, ihr habt ein großes Nichts unter euren Talaren."

Die Soziologin erzählt, wie ihr Chef sie wütend in sein Büro zitierte. Sie lächelt. "Dabei hatte ich nicht einmal die Türkei erwähnt."

Mit dem Satz habe Vatansever dagegen protestieren wollen, dass kurz zuvor vier befreundete Wissenschaftler verhaftet worden waren. Ende April fand sie einen Zettel aus dem Rektorat in ihrem Fach: Sie sollte ihren Schreibtisch aufräumen und am selben Tag die Universität verlassen. Keine Abfindung, keine Fristen.

Vatansever war überrumpelt. "Ich hatte gedacht, dass sie mir erst zum Ende des Semesters kündigen." Gleichzeitig sei sie auch erleichtert gewesen - und wütend. "Wie immer." Die Wut, die Vatansever seit ein paar Jahren fühlt, muss tief sitzen. Sie ist kaum zu erahnen in ihrer sanften Stimme oder den ruhigen grünen Augen.

Vatansever sitzt in blauem Strickpulli zwischen Bücherregalen im Zentrum Moderner Orient in Berlin. Sie ist eine von mehr als 7300 Akademikern, die nach dem Putschversuch im vergangenen Sommer per Regierungserlass aus türkischen Universitäten geworfen wurden. Die meisten seien Sozialwissenschaftler gewesen, schreibt die Fachzeitschrift "Nature" auf ihrer Internetseite .

"Gegen mich hat die Regierung auch ein Dekret erlassen, ich gelte jetzt als Terroristin", sagt Vatansever. Draußen blühen Ginster und Narzissen, Autos rumpeln über Kopfsteinpflaster. Das deutsche Exil ist ihr nicht fremd: Von 2004 bis 2010 lebte Vatansever in Hamburg, promovierte dort in Soziologie.

Ein Rat für alle Hochschulen

Vatansever sagt, sie habe sich nicht viel dabei gedacht, als sie mit 1127 anderen Wissenschaftlern im Januar 2016 einen Aufruf unterzeichnete, in dem sie die türkische Regierung für ihre Gewalt gegen Kurden kritisierte und sie aufforderte, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen.

Doch das brachte ihr das erste Disziplinarverfahren an ihrer Uni ein, eins von insgesamt dreien. Andere Wissenschaftler wurden festgenommen. "Ich hatte keine Angst", sagt Vatansever. "Es ist ethisch gesehen einfach falsch, sich mit allem abzufinden."

Vatansever ist auch wütend auf die türkischen Universitäten. "Die meisten Hochschulverwaltungen stellen sich komplett in den Dienst des Staates", sagt sie. Ihre Autonomie ist dahin, seit 1981 der staatliche Hochschulrat YÖK gegründet wurde.

Alle Hochschulen unterstehen dem Rat. Er koordiniert ihre Finanzen, Lehrpläne und die Studienplatzvergabe, ernennt Rektoren und Dozenten. Im vergangenen Juli verbot der YÖK türkischen Wissenschaftlern Dienstreisen ins Ausland und berief mehr als 1500 Rektoren und Dekane ab.

Und dann ist da noch das wirtschaftliche System. "Private Hochschulen beuten ihre Juniorprofessoren aus", sagt Vatansever. 15 Stunden Lehre pro Woche, zu Themen, auf die man gar nicht spezialisiert sei - da bleibe wenig Zeit, um eigene Veröffentlichungen voranzutreiben.

"Ich fand das alles so ekelhaft"

Im Sommer 2014 weigerte sie sich, einen Vertrag zu unterschreiben, der ihre Arbeitszeit erhöhte, aber nicht das Gehalt. "Ich fand das alles so ekelhaft", sagt Vatansever. Sie habe sich mit der Hochschulleitung gestritten und sei depressiv geworden. "Zwischen zwei Vorlesungen habe ich in meinem Büro geheult und gegen Schränke geschlagen", erinnert sie sich.

Der Weg hinaus hieß für sie: Angriff. Sie schrieb ein Buch über die prekären Arbeitsbedingungen an den rund 60 türkischen Privathochschulen.

Forschung und Privates lassen sich bei Vatansever kaum noch trennen. "Ich fühle mich wie ein Onkologe, der Krebs an sich selbst feststellen musste", sagt sie. Beide Eltern haben studiert. Mit zehn Jahren wurde Vatansever an einer deutsch-türkischen Eliteschule in Istanbul angenommen. "Ich war sehr ambitioniert", erinnert sie sich.

Eigentlich gute Voraussetzungen für eine Karriere in der Wissenschaft. Doch es sei ein Problem ihrer Generation, dass Kinder von Akademikern alles tun, um erfolgreich zu sein - und trotzdem nicht den Lebensstandard ihrer Eltern erreichten, sagt Vatansever. Sie arbeiten prekär, ähnlich wie viele Wissenschaftler in Deutschland.

"Ich hatte mir immer ein ruhiges, schönes Mittelschichtsleben ausgemalt", sagt Vatansever. "Normale Wohnung, sicherer Job, ein Leben ohne Schockwellen." Das sei wohl eine Illusion gewesen.

Eine gewisse Grenze überschritten

Vatansever ging allein ins Exil. Sie hatte ein siebenmonatiges Stipendium als Gastwissenschaftlerin am ZMO bekommen, und danach ein zweimonatiges am deutsch-französischen Centre Marc Bloch in Berlin. Sie wohnt in einem Gästehaus für Wissenschaftler, möbliertes Zimmer, ihre Aufenthaltserlaubnis gilt bis Ende Juli.

Berlin ist nur eine Zwischenstation. Wo es hingehen soll, weiß Vatansever nicht. Über die Zukunft redet sie nicht mehr gern. "Ich habe gelernt, meine Wünsche zu zügeln."

In die Türkei kann Vatansever als "Terroristin" nicht zurück. "Man würde mir meinen Pass wegnehmen, und ich dürfte das Land nicht mehr verlassen." Sie vermisst ihre Bücher, drei Regale voll, in Istanbul eingelagert. Nur "Das Kapital" von Marx hat sie nachgekauft.

Es gibt nicht viele Wissenschaftler, Lehrer, Oppositionelle, die in diesen Tagen noch ihre Geschichte erzählen. Zu groß ist die Angst vor Vergeltung. Die Familie eines deutschtürkischen Rentners, der seit Monaten in Ankara in Haft sitzt, berichtete SPIEGEL ONLINE, wie sie auch in Deutschland in Bedrängnis gerät.

Vatansever bremst das nicht. "Wenn man eine gewisse Grenze überschreitet, fühlt man nicht mehr so viel Angst." Die Depression vor drei Jahren sei ihre Grenze gewesen. Danach habe die Wut stets überwogen.

Nun versucht Vatansever, sich mit anderen türkischen Wissenschaftlern, Politikern und Aktivisten im Ausland zu vernetzen und einen Verein zu gründen, der sich für Frieden in der Türkei starkmacht. "Wir wollen eine Opposition im Exil aufbauen", sagt sie.

Nachdem sie den Friedensappell unterzeichnet hatte, bekam sie anonyme Mails, dass sie sich beim türkischen Volk entschuldigen solle. "Ich hab' drauf geschissen, so ein Schwachsinn", sagt Vatansever, streicht sich durchs Haar und lächelt wieder. "Ich bin doch nicht Wissenschaftlerin geworden, um den Mund zu halten."

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