Forschungsthema Weltkriegstrauma "Innerlich alles kaputt"
Am Anfang ihrer Diplomarbeit bekam Svenja Eichhorn viele wütende Anrufe. Da war zum Beispiel diese Frau: "Leute wie Sie gehören in die Hölle!", rief sie in den Hörer. "Lassen Sie das Thema ruhen. Sie sind jung, Sie können das nicht begreifen."
Eichhorn, 26 Jahre alt, war geschockt, doch die Greifswalder Psychologiestudentin machte weiter, gebannt von ihrem Thema. Die Aufgabe: Missbrauchsopfer des Zweiten Weltkriegs zu finden. Betroffene Frauen, die inzwischen weit über 70 Jahre alt sein mussten und vielleicht noch nie zuvor über das Erlebte gesprochen hatten.
Dem Schicksal dieser Frauen widmet sich eine Forschungsgruppe an der Universität Greifswald unter Führung des Psychologen Philipp Kuwert, Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Hanse-Klinikum Stralsund. Erstmals in der Nachkriegsgeschichte sollen die Traumata der missbrauchten Frauen systematisch untersucht und veröffentlicht werden.
Ein Thema, das Forscher nicht mehr abschütteln können
Seither beschäftigte sich Svenja Eichhorn in der Forschungsgruppe mit den Symptomen posttraumatischen Verhaltens, die auch Jahrzehnte nach dem Ereignis noch regelmäßig auftreten können, mit Schlafstörungen, Konzentrationsmängeln, verschiedenen Formen von körperlichen Schmerzen. Seitdem weiß sie, wie schwierig es ist, sich mit einem solch heiklen Thema zu befassen. Wie es den Forscher berührt, sich nicht mehr abschütteln lässt.
Es waren bewegende Geschichten, die Eichhorn hörte, mehr als 60 Jahre liegen sie zurück: Im Januar 1945 rückten 2,2 Millionen russische Soldaten über Ostpreußen, Schlesien, Pommern und Brandenburg nach Berlin vor. Es war die Endphase eines Kriegs, in dem Hitlers Soldaten und SS-Schergen in Osteuropa grausam gewütet hatten. Unter dem Zorn der schließlich siegreichen Rotarmisten hatte vor allem die deutsche Zivilbevölkerung zu leiden. Wie viele Frauen und Kinder in den letzten Kriegsmonaten auf deutschem Gebiet vergewaltigt wurden, weiß niemand; die oft genannte Zahl von zwei Millionen ist nicht gut belegt. Klar ist aber: Es war ein Massenverbrechen.
Um die letzten lebenden Zeitzeugen zu erreichen, wandte sich die Forschungsgruppe mit Aufrufen an die Presse. Zeitgleich lief der Kinofilm "Anonyma" an, die Verfilmung des Lebensberichts einer Berliner Journalistin, die in den letzten Kriegswochen immer wieder vergewaltigt worden war. Das Thema stand plötzlich im öffentlichen Fokus.
Hunderte wollten reden - manchmal klingelte das Telefon 20 Mal am Tag
Die Resonanz auf den Greifswalder Aufruf war überwältigend - als hätte jemand ein Ventil geöffnet. Im Herbst 2008 ließ Svenja Eichhorn ein dienstliches Mobiltelefon freischalten, dessen Nummer veröffentlicht worden war. Täglich gingen bis zu 20 Anrufe ein. 300 Personen wandten sich an das Forschungsteam, darunter viele Angehörige, die vom Schicksal der Mutter oder der Großmutter erzählten.
"Das mussten wir erst einmal sacken lassen", sagt Eichhorn - zumal viele Anrufer schwierige Gesprächspartner waren. Einige beleidigten die Psychologen, andere warfen ihnen vor, viel zu spät zu kommen, wieder andere schilderten Erlebnisse, die kaum zu bewerten und einzuordnen waren. Eichhorn stellte das Telefon irgendwann aus. "Wir entschieden, dass es besser war, die Leute auf den Anrufbeantworter sprechen zu lassen und zurückzurufen", sagt sie.
Viele Abende nahm sie sich Zeit für Gespräche, 15 Frauen traf sie für persönliche Interviews. Das war die Obergrenze an Gesprächen, die Psychologe Kuwert seinen Diplomanden oder Doktoranden zumuten wollte.
Eichhorns Gesprächspartnerinnen lebten in Mecklenburg-Vorpommern, andere in Berlin und Brandenburg, es war eine Tour durch die Wohnzimmer alter Damen, die zwischen 76 und 89 Jahre alt waren. Alleinstehende, verheiratete, verwitwete Frauen. Die meisten mit Volksschulabschluss, frühere Sekretärinnen oder Sachbearbeiterinnen, zu den Interviewten gehörten auch eine Lehrerin und eine Buchautorin.
Panik, wenn russische Männer sprachen
Kaffee und Kuchen gab es immer, erzählt Eichhorn, oft auch eine warme Mahlzeit. Königsberger Klopse, Rote-Beete-Salat oder pommersche Erbsensuppe, herzhafte Kost, wie sie damals vor allem die Hausfrauen in den deutschen Ostgebieten kochten. "Ich hatte den Eindruck, dass die Frauen durch die Mahlzeiten das Gespräch strukturieren und sich Pausen schaffen wollten", sagt Eichhorn. Probleme, die Frauen zum Reden zu bringen, hatte sie nicht. "Sie waren alle sehr gut vorbereitet."
Eine ältere Dame aus Berlin, schmal von Statur, mit roten Haaren, hat Svenja Eichhorn besonders beeindruckt. Nach dem Krieg hatte die Frau Bücher über Flucht und Vertreibung geschrieben, sich zu DDR-Zeiten für den Dialog mit den Russen eingesetzt, die massenhaften Vergewaltigungen dabei nie thematisiert. Als sie über den Missbrauch berichtete, wurde ihre Stimme leise, zittrig, sie blieb milde im Urteil. "Das sind junge, ausgehungerte Männer gewesen, unsere haben das doch nicht anders gemacht", so die Berlinerin.
Versöhnungsbereitschaft, so werten es Psychologen, ist eine Form der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse. Andere Frauen überfiel aber auch nach Jahrzehnten noch Panik, wenn sie russische Männer sprechen hörten.
Eichhorns Recherche ergab, dass 80 Prozent der interviewten Frauen ihr Leben lang unter Störungen ihrer Sexualität zu leiden hatten. Viele Betroffene gaben sich in Interviews robust, konnten zeit ihres Lebens aber nur schwer die körperliche Nähe eines Mannes zulassen. "Ich konnte mich nie von einem Mann beherrschen lassen, ich habe immer die Oberhand behalten", berichtete eine 79-Jährige der Diplomandin. "Ich war nie eine Sexbombe", ließ eine weitere Eichhorn wissen. Andere Frauen bedauerten es, dass sie ihre Ehemänner nicht so zufriedenstellen konnten, wie die sich das gewünscht hätten.
"Das kann man gar nicht zählen, wie oft das gewesen ist"
Aus Eichhorns Notizen lässt sich erahnen, wie grausam die Misshandlungen waren, die viele Frauen hatten erleiden müssen. "Zwei haben mich festgehalten, ein Dritter hat mich dann vergewaltigt. Dann haben die sich abgewechselt. Und das ging so ungefähr fünfmal. Die Bewohner haben mich von der Straße aufgelesen, weil ich da gelegen und unten geblutet habe", schilderte eine 82-Jährige im Gespräch. Eine 79-Jährige berichtete: "Dann hat er mich mitgenommen auf den Kornboden, durch den Schweinestall, Hühnerstall. Der hat mir sogar noch einen leeren Sack hingelegt und mich dann vergewaltigt." Eine 81-Jährige sagte: "Das kann man gar nicht zählen, wie oft das gewesen ist."
Nach dem Krieg war das Leiden nicht zu Ende. Viele Frauen trugen körperliche Schäden davon, eine 82-Jährige erzählte: "Ich hätte kein Kind austragen können, weil innerlich alles kaputt war." Es gab nach Kriegsende massenhaft Abtreibungen, die damals zwar verboten waren, aber in stillschweigender Übereinkunft von Ärzten vorgenommen wurden.
Oft konnten Angehörige oder Partner mit dem Geschehenen nicht umgehen. Die Mutter etwa, die den Missbrauch der Tochter miterlebte, aber nie mit ihr darüber sprach. Eine Frau erzählte, dass ihr damaliger Mann sich mit dem Makel der Vergewaltigung nicht abfinden konnte, als er aus der Kriegsgefangenschaft kam. Sie habe in eine Scheidung aus ehewidrigem Verhalten einwilligen müssen, so die Frau.
Eichhorns liebste Kronzeugin ist gerade gestorben
Das Gehörte belastete Svenja Eichhorn, und manchmal sei sie am Abend voller Nervosität durch die dunklen Straßen nach Hause gelaufen, erzählt sie. "Da war plötzlich so eine diffuse Bedrohung, auch wenn ich wusste, dass mir nichts passieren kann." Nach ein paar Stunden sei dieses Gefühl dann vorübergegangen.
Eichhorn fühlt sich vor allem den Opfern verpflichtet. "Es ist wichtig, dass das Erlittene anerkannt wird", sagt sie. Und ihr Respekt vor älteren Menschen sei weiter gewachsen. "Diese unterschiedlichen Lebensläufe, und wie viele Frauen nach dem Krieg ihr Leben gemeistert haben, das hat mich tief beeindruckt."
Erste Ergebnisse der Greifswalder Studie liegen inzwischen vor, sind aber noch nicht publiziert. Svenja Eichhorn hat die Resultate auch ihren Interviewpartnerinnen zukommen lassen. Die Berlinerin mit den roten Haaren, von der die Doktorandin so beeindruckt war, erreichte die Postsendung nicht mehr - sie starb Anfang Februar.