
Kriegsjahr 2014: Forscher hatten früh gewarnt
Friedensforscher Kriege sind vermeidbar
Wenn Margret Johannsen in diesen Tagen an den Libanon und seine 4,5 Millionen Einwohner denkt, ist sie in Sorge. In Sorge um das kleine Land, das in den vergangenen Monaten 1,2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Es sind Menschen, die sich vor den Kämpfen im benachbarten Syrien oder den Bomben in Palästina gerettet haben und nun in Auffanglagern leben."Man muss den Libanon von dem unglaublichen Druck der Flüchtlinge befreien", sagt Johannsen - sonst drohe der geplagten Region ein weiterer Krieg, unter anderem, weil in den Lagern die Konflikte um Ressourcen und religiöse Differenzen eskalieren könnten.
Johannsen ist Nahost-Expertin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Ihr Job ist es vorherzusagen, wo es in der Welt zu Kriegen oder Genoziden kommen könnte. Die etwa 200 Friedens- und Konfliktforscher, die es in Deutschland gibt, erstellen Gutachten, verfolgen die Medien in Krisenregionen und suchen immer wieder das Gespräch mit Politikern. Leider werden sie und ihre Kollegen anderswo auf der Welt oft erst zu spät gehört - oder gar nicht.
Das Jahr 2014 ist ein Jahr der Kriege und Krisen. Der Gaza-Konflikt flammt erneut auf, prorussische Separatisten fordern die Abspaltung der Ostukraine und den Anschluss an Russland, in Mali und Zentralafrika kämpfen Milizen, nigerianische Boko-Haram-Kämpfer zünden Autobomben und entführen Schülerinnen, noch immer herrscht Bürgerkrieg in Syrien - und Terroristen des "Islamischen Staates" (IS) morden, vergewaltigen und verbreiten Angst und Schrecken. Die Antwort der Weltgemeinschaft hieß in vielen Fällen: Sanktionen, Waffenlieferungen, Bombenangriffe.
"Das Problem mit dem IS war bekannt"
Margot Käßmann, ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, sagte in einem viel diskutierten Interview mit dem SPIEGEL: "Heute existieren viele Friedensforschungsinstitute, die Strategien entwickelt haben, um Konflikte zu vermeiden oder zu schlichten. Man muss es eben nur wollen." Hat sie recht? Hätten sich die Kriege und Konflikte, die das Jahr 2014 prägen, tatsächlich mit wissenschaftlicher Hilfe verhindern lassen?
"Das Problem mit den IS-Kämpfern war zum Beispiel schon vor mehr als einem Jahr bekannt", sagt Conrad Schetter, Direktor des Bonn International Center for Conversion (BICC), das sich für die Förderung von Frieden und Entwicklung einsetzt. In den internationalen Fachkreisen der Friedensforscher habe man gesehen, dass die Situation hochgefährlich sei. Die Politik sei daher aufgefordert worden, alles zu tun, um eine Eskalation zu verhindern. "Aber erst, als das Thema im Sommer in den Medien groß wurde, glaubten die Politiker, dass sie jetzt auch etwas machen müssten", sagt Schetter. Mit Diplomatie lasse sich dann aber kaum noch etwas ausrichten.

Ausgabe 5/2014
Mama ruft an!
Wenn Eltern klammern und Studenten Heimweh haben
Es gibt in Deutschland fünf führende Friedensforschungsinstitute. Neben dem IFSH und dem BICC gehören dazu die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, die Heidelberger Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft und das Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen.
Sie bieten Masterstudiengänge an, erheben Studien, veröffentlichen Fachartikel, beraten Ministerien. Ihre Experten diskutieren auf Konferenzen und in Medien. Jedes Institut hat dabei seine Schwerpunkte. Margret Johannsen und das IFSH spezialisierten sich auf Südosteuropa und den Nahen Osten, das BICC auf die Kontrolle von Kleinwaffen und Abrüstung. Einmal im Jahr bündeln die Institute ihr Wissen in einem gemeinsamen Friedensgutachten. Im aktuellen Bericht schlagen sie unter anderem vor, 200 000 syrische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen - auch, um den Libanon zu entlasten und damit die nächste Katastrophe zu verhindern.
"Konflikte müssen ausgetragen werden, nur gewaltfrei"
Während die Institute eher wissenschaftliche Arbeit leisten und Empfehlungen geben, kümmert sich der Zivile Friedensdienst (ZFD) um deren Umsetzung. 250 Mitarbeiter arbeiten in 38 verschiedenen Ländern, unter anderem im Kongo, wo sie Radiojournalisten ausbilden: Die Moderatoren sollen lernen, in Konflikten beschwichtigend zu wirken. Die ZFD-Mitarbeiter sind auch in Äthiopien aktiv, wo sie Friedenskomitees unterstützen, die beim Streit um Ressourcen oder zwischen ethnischen Gruppen vermitteln.
Für Carsten Montag, einen Sprecher des ZFD, geht es nicht darum, Konflikte zu vermeiden. Im Gegenteil: "Konflikte müssen ausgetragen werden, nur eben gewaltfrei." Dazu gehöre es, die Motive, Wut oder Frustration der streitenden Parteien zu verstehen, sagt er. Und damit diese nicht in Gewalt umschlagen, müsse der Interessensausgleich möglichst früh stattfinden. In die Kriegsgebiete selbst schickt der ZFD seine Mitarbeiter nicht, das übernehmen große humanitäre Organisationen wie die der Vereinten Nationen.
Wenn ein Krieg vorbei ist, kommen die Friedensarbeiter aber wieder. Die ZFD-Mitarbeiter helfen dann zum Beispiel beim Aufbau der Strukturen und Gerichte, die Täter zur Rechenschaft ziehen - und bieten traumatisierten Opfern Therapien an, damit Emotionen nicht erneut zu Gewalt führen. Der ZFD könnte noch sehr viel mehr unternehmen, um Kriege zu verhindern - doch seine Mittel sind begrenzt. Während der diesjährige Etat des Bundesverteidigungsministeriums 32,8 Milliarden Euro beträgt, steht dem ZFD nur etwa ein Tausendstel davon zur Verfügung: gerade einmal 34 Millionen Euro. Ein Missverhältnis, das es so auch in anderen großen Staaten gibt.
Stuhlkreise mit Boko-Haram?
Trotzdem ist der ZFD auch im Libanon vertreten, unter anderem in den Flüchtlingslagern. "Wir müssen dort eine Situation schaffen, in der Menschen einem geregelten Leben nachgehen können", sagt Montag. Dafür brauche es rechtsstaatliche Strukturen, Arbeitsplätze und geschulte Autoritäten, die zwischen verfeindeten Religionsgruppen in den Camps schlichten und sich um libanesische Anwohner kümmern, die sich bedroht fühlen. "Viele Menschen sehen sich und ihre Gemeinschaft als die einzigen Opfer und schreiben jeweils den anderen die Schuld an der prekären Situation zu", sagt Montag.
Und was ist, wenn ein Konflikt eskaliert? Wenn das Sterben beginnt? Können die Institute dann noch helfen? Ist es möglich, mit Boko-Haram-Mitgliedern Stuhlkreise zu bilden und dem IS mit diplomatischen Mitteln zu begegnen? Im Fall von IS glauben auch viele Friedensforscher nicht daran: "Wenn die Lage so ist, dann halte ich persönlich den Einsatz von Gewalt für gerechtfertigt", sagt Michael Brzoska, der das Hamburger IFSH leitet. Doch richtig bleibe auch etwas anderes, glaubt der Forscher: Einige Kriege hätten wahrscheinlich verhindert werden können, wenn man viel früher auf die Friedens- und Konfliktforscher dieser Welt gehört hätte.