Fünfter Jahrestag des Massakers Mindestens 17 Schul-Schießereien seit Columbine

"Never, never again", schwor sich Amerika nach dem 20. April 1999. Nie wieder sollte es zu einem so schrecklichen Massaker kommen wie an der Columbine Highschool, wo an diesem Unglückstag 13 Menschen starben. Die Spuren des Amoklaufs sind beseitigt, doch die Schießereien an US-Schulen finden kein Ende.
Von Jochen A. Siegle

Noch immer rätselt man über die Ursachen des Columbine-Massakers. Was war tatsächlich los mit Dylan Klebold und Eric Harris, die ganz in Schwarz gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet an diesem schönen Frühlingstag kurz nach 11.00 Uhr morgens in ihrer verhassten Schule in Littleton ein Blutbad anrichteten? 12 Schüler und ein Lehrer fielen den Beiden zum Opfer. "Keiner von uns weiß, warum es geschehen ist", sagt Kacey Ruegsegger, die damals 17 Jahre alt war und von Kugeln am Kopf und an der Schulter schwer verletzt wurde. "Eine definitive Antwort wird es wohl niemals geben."

Betroffene, Psychologen und Schulbehörden ringen zum fünften Jahrestag ebenso ratlos wie die Kommentatoren in den US-Medien um Erklärungen für das Unfassbare - das sich aber doch beständig wiederholen sollte. Nicht nur 2002 in Erfurt, sondern regelmäßig in den USA, wenn auch mit weniger Opfern und medialer Beachtung.

Seit Columbine kam es zu mindestens 17 Schießereien an US-Schulen; 11 Schüler und Erwachsene wurden getötet und mindestens 40 verletzt. Ermittelt hat das die Initiative "Ribbon of Promise" (ROP). Die Non-Profit-Organisation in Springfield (Oregon) wurde nach einem Amoklauf mit 2 Toten und 25 Verletzen 1998 an der dortigen Thurston Highschool gegründet. Tragödien außerhalb der USA - so neben Erfurt 2002 mit 17 Toten etwa auch eine Stockholmer Schul-Schießerei im April 2001 (ein Todesopfer) - sind dabei nicht eingerechnet.

"Ich will ein Serienkiller sein"

Zudem konnten Dutzende von Nachahmungsversuchen erst in letzter Sekunde vereitelt werden: Der ROP zufolge sind seit Columbine allein an US-Schulen mindestens 24 Schusswaffen-Übergriffe verhindert worden, darunter im Herbst 1999 sogar ein erneutes Attentat auf die Columbine-Highschool.

Und diese beunruhigende Statistik ist nicht einmal ansatzweise vollständig. Allein in den letzten Wochen schrammte man in den USA mehrfach an verheerenden Schul-Attentaten vorbei. Zum Beispiel Anfang Februar im US-Bundesstaat Florida: Der 14-jährige Michael Hernandez erstach seine Klassenkameradin Jaime Rodrigo Gough auf der Toilette einer Schule in Palmetto Bay, einem Reichen-Vorort von Miami.

Nicht nur diesen Mord hatte Hernandez vorher kaltblütig geplant, sondern noch weitere. Ermordet werden sollten mindestens ein weiterer Klassenkamerad, seine ältere Schwester sowie alle eventuellen Zeugen dieser Taten. Das geht aus den einige Wochen später veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des Jungen, der stets als sehr begabter Schüler galt, hervor. Im Tagebuch fanden die Ermittler auch den Ausdruck einer Website zu Massenmördern. Handschriftlich hatte der Teenager darauf notiert: "Ich will ein Serienkiller sein."

Nur wenige Tage später planten zwei 15-Jährige in Elk Grove (Kalifornien) ein Massaker an der Laguna Creek Highschool. Sie wollten einen örtlichen Sportladen ausrauben, mit dort erbeuteten Waffen während der Mittagspause die Cafeteria stürmen und alle Schüler erschießen. Nachdem das Duo Schulkameraden davon erzählt hatte, bekamen aufmerksame Eltern von dem Vorhaben Wind und schalteten sofort die Polizei ein. Sogar Sprengstoff wollten die Teenager in der Schule einsetzen. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Nazi-Memorabilia, Lagepläne der Schul-Cafeteria sowie ein Gewehr, Kaliber 22, sichergestellt.

Nur zwei Autostunden weiter westlich, in Sunnyvale, hegten wiederum drei Tage später gleich zwölf Halbwüchsige den Plan, die Cupertino Middle School abzufackeln. Auch dieses verwirrte Dutzend - allesamt im Alter zwischen 12 und 14 Jahren - wurde ebenso in letzter Minute verpfiffen wie jener Schüler in Saratoga, der im Januar Sprengstoff aus einem Labor gestohlen hatte und damit seine Highschool in die Luft jagen wollte.

Schul-Terrorgefahr allgegenwärtig

Zuletzt fielen vergangene Woche Schüsse auf dem Basketballfeld der Grimmer Elementary Highschool in Fremont. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, die meisten Kinder waren bei einem Schulausflug. "Die Gegend hier ist eigentlich sehr, sehr sicher", wunderte sich ein fassungsloser örtlicher Polizist - kaum anders als Palmetto Bay, Elk Grove, Sunnyvale. Oder Columbine.

Und damit passen auch die jüngsten Zwischenfälle in das Raster der Experten: Wie die Amokläufe an amerikanischen Schulen der letzten zwanzig Jahre zeigen, ereigneten sich "School Shootings" nie in Ballungszentren wie Los Angeles, New York City oder Chicago, sondern stets in Kleinstädten wie Gilbert (Arizona), Paducah (Kentucky) oder eben Littleton (Colorado). Das trifft auch auf Erfurt zu.

Außerdem ist es Experten zufolge typisch, dass die Taten vorab angekündigt wurden oder zumindest verschiedene Signale auf eine Tat hindeuteten, wie in Columbine. "Es gab viele Warnzeichen, man hätte einfach besser aufpassen können", sagt die ehemalige Columbine-Schülerin Ruegsegger.

"Jede Schule in Amerika hat sich verändert"

Seit dem Unglückstag hat sich viel getan an der Columbine-Highschool. Physisch erinnert dort heute fast nichts mehr an den 20. April 1999. So gut wie alle Spuren des Attentats wurden beseitigt, jedes einzelne Einschussloch wurde gestopft und die Schule praktisch komplett umgestaltet - Psychologen hatten der Verwaltung damals dringend dazu geraten. Einzig eine kleine Tafel in der für 3,5 Millionen Dollar umgebauten Bibliothek erinnert an das Massaker: Sie trägt die Namen der Toten.

Noch wichtiger als die Baumaßnahmen scheint jedoch der Bewusstseinswandel, der seitdem nicht nur in Littleton stattfand. "Jede Schule in Amerika hat sich seit dem Anschlag hier verändert", sagt Frank DeAngelis. Der Columbine-Rektor ist als einziges Mitglied der damaligen Schulverwaltung noch immer dort tätig. "Inzwischen ist man wesentlich aufmerksamer und sensibler dafür, was die Schüler so tun - vor allem auch außerhalb des Schulgeländes."

Der anhaltenden Terrorgefahr an Schulen zum Trotz scheint das eine gewisse Wirkung gezeigt zu haben. Inklusive der in Columbine Getöteten zählte das National Center for Education Statistics zwischen 1996 und eben dem 20. April 1999 in nur drei Schuljahren 152 durch Gewaltanwendung an US-Schulen ums Leben gekommene Personen. Nach einem Bericht des Fernsehsenders CNN liegt diese Zahl in den Jahren nach Columbine deutlich niedriger.

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