Für eine Woche Mann Im Körper des Feindes

Frauen als Männer: "Hört auf zu lächeln!"
Ein bisschen männlicher wäre Karl gern. Verlegen streicht er sich den dunklen Pony aus dem Gesicht. Er ist ein schmächtiger Mann von 20 Jahren, trägt zu seinem Drei-Tage-Bart eine eckige Brille. Prüfend mustert er sich im großen Spiegel, balanciert auf den Außenkanten seiner Sneakers. Er findet sich gar nicht so übel.
Immerhin war er heute Morgen noch eine Frau.
Diese Frau, die jetzt in Karls Körper steckt, das bin ich. Gemeinsam mit neun anderen Frauen habe ich in einem einwöchigen Workshop geübt, auszusehen, mich zu bewegen und zu sprechen wie ein Mann. Herausgekommen ist dieser ruhige Kerl, fast noch ein Junge, der Indierock und sein Biologiestudium liebt.
Zur Selbstfindung, aus feministischer Überzeugung, aus Spaß - jede im Workshop hat ihre eigenen Gründe, in eine Männerrolle zu schlüpfen. Mich treibt vor allem eins: Neugier. Ich bin gern eine Frau. Ich mag meinen Körper, meine langen Haare, ich mag es, meine Gefühle zu zeigen und über sie reden zu dürfen. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass mein Verhalten als Frau nicht angeboren ist - und ich das Mann-Sein lernen kann. Doch wie überzeugend kann ich sein?
"Hört auf zu lächeln!", ruft Diane Torr, unser Coach. "Das verrät euch. Genau wie eure Augen." Wir stehen im großen Workshopraum in einer Fabriketage in Berlin-Neukölln und versuchen, unsere Gesichtszüge zu kontrollieren. Die Performance-Künstlerin Torr lehrt Frauen, sich in Männer auf Zeit zu verwandeln. Sie hat schon solche Seminare geleitet, als es noch keine "Gender Studies" an den Universitäten gab und Kleinstadtverwaltungen noch keine in "Gender Mainstreaming" fortgebildeten Frauenbeauftragten beschäftigten.
"Der Boden, auf den ihr euren Fuß setzt, gehört euch"
Torrs Mission: Frauen sollen sich der Rollenklischees bewusst werden und die Regeln männlicher Dominanz verstehen. Um dann, ganz nach Belieben, mit ihnen spielen zu können. Ob die Teilnehmerinnen in Alltagssituationen anders auftreten wollen, ob es ihnen darum geht, Männer oder eher sich selbst besser zu durchschauen, ob sie eine Mutprobe suchen oder Chefs, Kollegen, Kommilitonen die Stirn bieten wollen - das bleibt ganz Sache der Frauen.
Zwischen Männer- und Frauenrolle wechselt Torr nach 30 Jahren Bühnenerfahrung mühelos. Aus Diane ist Danny geworden, ein schmieriger Vertreter im Anzug, das kurze rote Haar streng gescheitelt. "Das Wichtigste", sagt Danny, während er steif umherschreitet, "ist, dass ihr Raum einnehmt. Der Boden, auf den ihr euren Fuß setzt, gehört euch."
Danny nimmt sich einen Stuhl und setzt sich drauf. Mit beiden Füßen am Boden, dem Hintern komplett auf der Sitzfläche. Selbstzufrieden schaut er sich um, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Kein Zweifel, dieser Raum gehört Danny.
Um mich auch äußerlich in Karl zu verwandeln, schlüpfe ich in eine Cordhose, ein Hemd und einen Wollpulli. Meine Brüste plätte ich mit einer elastischen Binde. Auch meine blonden Haare müssen dran glauben: braun gefärbt und zum Pilzkopf geschnitten lassen sie mich Karl schon erahnen. Ich schnipple Kunsthaare klein, die Diane mir mit Flüssigleim ins Gesicht klebt. Mein Drei-Tage-Bart riecht nach Lösungsmitteln und piekst entsetzlich. Aber echt sieht er aus.
Weg mit den falschen Nägeln, nicht mit einer Haarsträhne spielen
Die erste Mutprobe führt mich mit zwei anderen Neu-Männern in eine Bäckerei zum Kaffee holen. Ich ziehe mir Karls Outdoorjacke über, am Kragen bleiben ein paar Bartstoppeln hängen. Die Hose sitzt ungewohnt tief, und statt - wie ich es gewohnt bin - so gerade wie möglich zu gehen, lässt Karl nun die Schultern hängen.
Auf dem Kottbusser Damm laufen die Menschen in Strömen an Videotheken, arabischen Schmuckläden und Dönerbuden vorbei. Karl versucht, mit der Menge zu verschmelzen, doch ganz Neukölln scheint ihn zu beobachten. Wo ist nur sein selbstsicherer Schritt geblieben?
Mit ernster Miene und tiefer Stimme bestellen wir Cappuccino und Bienenstich. "Vier dreißig zurück - den Kuchen hat Ihre Freundin schon", sagt die Verkäuferin und deutet auf mich. Verdammt.
Eingeschüchtert huschen wir zurück in den Workshopraum, prüfen unsere Klamotten, bessern die Bärte aus. "Die Details sind wichtig", erklärt Diane. Die Leute scannen einander im Vorbeigehen: "Wenn dann etwas nicht ins Bild passt, werden sie stutzig." Manche der Teilnehmerinnen haben sich tatsächlich grobe Schnitzer erlaubt. Björn trägt noch seine falschen Fingernägel. Karstens Brüste sind gut zu erkennen. Aber verräterisch kann auch das gedankenverlorene Spiel mit einer Haarsträhne sein - oder der Blick.
Karl hat sich einen schlurfigen Schritt zugelegt. Mit einer fahrigen Geste rückt er seine Brille zurecht, wenn er sich besonders unsicher fühlt. Die große Spiegelwand im Übungsraum sagt ihm, dass er sich von den Berliner Jungs nicht unterscheidet. Aber finden das die Berliner Jungs draußen auch?
Von einem Rollenklischee ins nächste
Auf der Rolltreppe am Bahnhof Zoo schiebt sich eine Gruppe junger Männer an Karl vorbei. "Was guckst du?", schnauzt einer. Als Frau fühle ich mich in solchen Situationen sicher. Aber ich stecke in Karl fest, einem schmächtigen 20-Jährigen, der bei einer Prügelei keine Chance hätte. Das weiß auch mein Gegenüber. Immerhin, er hält mich für einen Rivalen. Für einen Mann.
Fürs Ansehen und Angesehenwerden gelten für Männer andere Regeln als für Frauen, das wird Karl schnell klar. Die Frauen beachten ihn nicht, mustern ihn nicht prüfend wie zuvor mich. Die Männer dagegen schauen ihn an - aber nicht auf die gewohnt interessierte, manchmal auch aufdringliche Art, sondern aggressiv, wenn er ihren Blick erwidert.
Trotzdem findet sich Karl schnell zurecht in der Männerwelt. Er weiß, dass ihm als Fast-noch-Junge niemand Türen aufhält oder mit ihm an der Supermarktkasse plaudert. Und er genießt es. Einfach schweigen. Nicht jedem gefallen wollen. Nicht dauernd bestätigend lächeln, wenn er nur nach dem Weg gefragt wird. Wie sehr diese Klischees zutreffen, fällt mir erst auf, als ich sie nicht mehr bedienen muss.
Um den Mann in mir überzeugend zu spielen, habe ich nur drei Tage gebraucht. Das wird mir klar, als am vierten Tag ein Freund am verabredeten Treffpunkt vorbeiläuft, ohne mich zu erkennen - dabei trage ich sogar seine Cordhose.
S-Bahn-Fahren aber bleibt ein Abenteuer. Den Blicken standhalten, mit denen die Fahrgäste einander mustern, weil es draußen nichts Neues zu sehen gibt. Die Brille gerade rücken und sich das Geheimnis nicht anmerken lassen. Doch der Blick dieser einen Frau ist anders. Beim Aussteigen lächelt sie Karl zu. Er streicht sich die Haare aus dem Gesicht - und fühlt sich ziemlich männlich.