

Schule im Luftschutzkeller, Dauerbeschuss, 1425 Tage gefangen in der eigenen Stadt: Vor 15 Jahren endete in Sarajevo die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Fünf junge Menschen, die mit ihr groß geworden sind, erzählen von Montag bis Freitag in einer SPIEGEL-ONLINE-Serie vom Leben im Krieg und seinen Spuren. Dieses Mal: Haris Jergovic, 24, Wirtschaftsstudent an der Universität Sarajevo.
"Ich spreche jeden Tag über die Belagerung. Ich muss, denn ich führe Touristen zu Kriegsschauplätzen. Ich zeige ihnen Gebäude, die während der Belagerung zerstört worden sind, das Holiday Inn-Hotel, in dem sich damals die Journalisten verbarrikadiert haben und den Tunnel, der aus der Stadt geführt hat.
Durch ihn haben die Menschen Medikamente und Waffen nach geschmuggelt. Ich glaube, dass mein Job mir geholfen hat, zu verarbeiten, was ich in meiner Kindheit erlebt habe. Manche Menschen verdrängen bis heute, was passiert ist.
Aber wir müssen uns der Vergangenheit stellen - und einander vergeben. Es gibt hier viele verschiedene Ethnien und Religionen, die auf engstem Raum zusammenleben. Katholische Kirchen, stehen neben Moscheen und Synagogen. Eigentlich hat es nie eine Rolle gespielt, an was du glaubst oder woher du kommst. Erst mit dem Krieg kam das Misstrauen.
"Patronenhülsen als Andenken"
Ich war ein Kind, als die Serben Sarajevo umzingelt haben. In unser Haus sind neun Granaten eingeschlagen, jedes Mal waren wir zu Hause und haben im Keller gekauert, bis sie sich das nächste Gebäude vorgenommen haben. Nach dem Krieg war unser Haus nur noch eine Ruine, alles, was meine Eltern vor dem Krieg besaßen, war hin. Ein paar Granaten- und Patronenhülsen habe ich aufbewahrt. Als Andenken an die Belagerung.
Heute lebe ich gerne in Sarajevo. Alle meine Freunde sind hier, wir spielen Fußball und gehen auf Konzerte. Im April war der Rapper Bushido in der Stadt. Der ist Deutscher, oder? Auch wenn ich die Texte nicht verstehe, mag ich seine Musik.
"Die Stadt hatte damals eine Seele"
Vielleicht ja, weil ich sie nicht verstehe. Schade ist nur, dass ich so viel arbeiten muss. Meine Freunde sind sauer, wenn mal wieder ein Anruf kommt, und ich dann los muss, um irgendjemanden vom Flughafen abzuholen oder eine Führung zu machen.
Am liebsten zeige ich Touristen die alte Bobbahn auf dem Berg Trebevice. 1984 haben hier die Bobwettbewerbe der Olympischen Winterspiele stattgefunden. Unsere Bobbahn war die modernste der Welt. Die Leute haben alle zusammengearbeitet, damit die Anlage rechtzeitig fertig wird.
Die Stadt hatte damals eine Seele, sagen die Älteren. Schade, dass ich 1984 noch nicht auf der Welt war. Aber ich habe immer einen Schlüsselanhänger mit dem Olympia-Maskottchen dabei, dem Wolf Vucko. Die Kinder haben es geliebt, wenn Vucko abends im Fernsehen zu sehen war. 'Sarajevouuu', hat er dann immer geheult.
Echte Tiere gibt es da oben nicht mehr. Die sind vor dem Krieg in die Nachbarländer geflohen und nicht mehr zurückgekommen. Außerdem sind die Wälder bis heute voller Minen, jedes Jahr sterben Wanderer und Pilzsammler. Geh bloß nie in den Wald. Du weißt nicht, was dich dort erwartet."
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Blick zurück: Haris Jergovic, 24, führt Touristen durchs frühere Kriegsgebiet Sarajevo. So verdient der Student sein Geld. Er sagt: "Wir müssen uns unserer Vergangenheit stellen - und einander vergeben." Die Belagerung der Stadt erlebte er als Kind mit. In einer UniSPIEGEL-Serie spricht er über seine Erinnerungen. mehr...
Aktives Erinnern: "Ich glaube, dass mein Job mir geholfen hat, zu verarbeiten, was ich in meiner Kindheit erlebt habe", sagt Haris Jergovic. "Manche Menschen verdrängen bis heute, was passiert ist."
Lieblingsort: Touristen führt Haris Jergovic am liebsten zur Bobbahn auf dem Berg Trebervice, wo 1984 die Olympischen Winterspiele ausgetragen wurden. Um die Anlage fertig zu stellen, hätten alle zusammengehalten und mit angepacht, sagt er. "Die Stadt hatte damals eine Seele, sagen die Älteren."
Kriegsschäden: Auf den Bildern sind zerstörte Häuser zu sehen. Haris Jergovic führt Touristen zu den Orten.
Stadt unter Belagerung: Als Sarajevo eingekesselt war, gab es zahlreiche Scharfschützen, die aus dem Verborgenen heraus feuerten. Und in den Wäldern liegen noch immer unentdeckte Minen.
Aufgewachsen ohne Vater: Alma Telibecirivic, 32, erlebte die Belagerung von Sarajevo als Jugendliche. Sie erinnert sich noch daran, wie ihr Vater von einem Scharfschützen erschossen wurde. Trotz der Gefahr und der Trauer ging sie jeden Tag zum Tanzunterricht. mehr...
Bar in Sarajevo: Mittlerweile arbeitet Alma Telibecirivic als Kulturmanagerin und organisiert Konzerte. Während der Belagerung, erzählt sie, sei Kunst etwas ganz Besonderes gewesen. "Wir mussten improvisieren."
Aufgewachsen im Krieg: Dejan Begic, 27, lebt heute in den Bergen. Die Belagerung Sarajevos hat er in einer Plattenbausiedlung im Osten der Stadt verbracht. Auch er berichtet von seiner Jugend, von Wasserknappheit und Angst vor Scharfschützen. mehr...
Allee der Scharfschützen: Hier lebte Dejan Begic während der Belagerung. "Irgendwann wird der Krieg Alttag", sagt er. "Du rennst, du hörst die Schüsse, du hörst Granaten fallen - es ist dir egal."
Spuren des Krieges: An vielen Stellen in Sarajevo sind noch Einschusslöcher zu sehen...
...und Dejan Begic kann sich auch noch an Granatenbeschuss erinnern. Einige nannten er und seine Freunde "Pig-Grenades", weil sie sich anhörten wie das Quieken von Schweinen.
Hoffnung auf Frieden: Einschusslöcher und ein Peace-Graffito in Sarajevo. Das Stadtbild wandelte sich während der Belagerung, Parks wurden zu Äckern, berichtet Begic.
Im Visier: Sarajevo, hier von einer Scharfschützenstellung aus zu sehen, war 1425 Tage eingekesselt.
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden