

Schule im Luftschutzkeller, Dauerbeschuss, 1425 Tage gefangen in der eigenen Stadt: Vor 15 Jahren endete in Sarajevo die längste Belagerung des 20. Jahrhunderts. Fünf junge Menschen, die mit ihr groß geworden sind, erzählen von Montag bis Freitag in einer SPIEGEL-ONLINE-Serie vom Leben im Krieg und seinen Spuren. Dieses Mal: Alma Telibecirivic, 32, Kulturmanagerin und Filmproduzentin.
"Es war damals etwas Besonderes, an die Kunsthochschule zu gehen. Ich habe mich wichtig gefühlt, weil ich mitten im Krieg malte. Manchmal denke ich, dass unsere Kunst während der Belagerung anspruchsvoller war. Wir hatten praktisch nichts, nur alte Pinsel und trockene Farbreste. Wir konnten nicht einfach in den Laden gehen neue kaufen, wir mussten improvisieren. Das hat unsere Kunst zu etwas Besonderem gemacht.
Aber ich möchte nicht malen müssen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das ist in Bosnien fast unmöglich. Ich male nur für mich selbst. Mein Geld verdiene ich seit zehn Jahren als Kulturmanagerin in verschiedenen PR-Agenturen oder bei Theater und Filmfestivals. Außerdem habe ich immer wieder Konzerte von Stars wie Jamiroquai und James Blunt organisiert.
"Ich hatte eine enge Beziehung zu meinem Vater"
Ich bin in geboren. Den gesamten Krieg über war ich hier. Erst habe ich mit meinen Eltern in einem Vorort in der Nähe des Flughafens gewohnt. Als der Ort von Serben besetzt wurde, mussten wir meinen Vater und meinen älteren Bruder im Keller verstecken.
Die serbischen Soldaten haben alle muslimischen Männer mitgenommen und viele umgebracht. Deswegen sind wir von dort in die Stadt geflüchtet. In Sarajevo hatten wir zwar kein Wasser, auch keinen Strom, aber in der belagerten Stadt fühlte ich mich frei. Ich ging trotz der Scharfschützen jeden Tag in den Tanzunterricht. Ich weiß noch, einmal im Monat hatten wir eine Aufführung. Eine davon kann man heute bei Youtube sehen. Ich bin die mit den kurzen Haaren, die als letzte von der Bühne geht.
Aber sonst war alles sehr schwer damals. Gleich im ersten Kriegsjahr, 1992, wurde mein Vater von einem Scharfschützen erschossen. Er war Soldat und hat an der Stadtgrenze gegen die Serben gekämpft. Eines Abends kam er von der Front nach Hause, um uns Brennholz zu bringen. Wir hatten damals keine Heizung, wir kochten und wärmten uns am offenen Feuer. Auf dem Weg zurück wurde er erschossen. Niemand konnte uns Bescheid geben, die Telefone funktionierten nicht. Erst am nächsten Abend kam ein Freund und erzählte, was passiert war.
Für mich war das besonders hart. Denn ich hatte eine sehr enge Beziehung zu meinem Vater. Vermutlich ist das normal. Töchter lieben ihre Väter und Söhne ihre Mütter. Ich war 13 Jahre alt, als die Belagerung begann und habe gar nicht kapiert, was da passierte, um was es ging in diesem Krieg.
Meine Eltern hatten Zuhause nie über Nationalitäten oder Religionen gesprochen. Ethnien haben bei uns keine Rolle gespielt. Mich hat der Krieg einfach nur genervt. Meine Mutter wollte mich nicht raus lassen, wegen der Scharfschützen und der Granaten. Aber mir waren die egal. Ich wollte nur Zeit mit meinen Freunden verbringen. Wenn man Wasser holen ging, war man für Stunden unterwegs. Das haben wir natürlich gemeinsam gemacht.
"Im Krieg glaubst du an etwas: Dass der Krieg bald vorbei ist"
Während der Belagerung habe ich viele neue Freunde gefunden. Damals waren die Menschen einander näher. Man schlief neben Unbekannten im Keller, wenn das Haus unter Beschuss war oder hat zusammen gekocht. Heute habe ich keine Ahnung, wer in meiner Nachbarschaft lebt. Ich könnte auch nicht mehr ohne Strom und Wasser leben. Da würde ich durchdrehen.
Wenn Krieg ist, dann glaubst du an etwas: Irgendwann wird der Krieg zu Ende sein. Das hast du immer im Kopf. Dann wird alles besser werden. Heute wissen viele in Sarajevo nicht mehr, an was sie glauben sollen. Sie haben nichts mehr, für das sie kämpfen müssten."
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Aufgewachsen ohne Vater: Alma Telibecirivic, 32, erlebte die Belagerung von Sarajevo als Jugendliche. Sie erinnert sich noch daran, wie ihr Vater von einem Scharfschützen erschossen wurde. Trotz der Gefahr und der Trauer ging sie jeden Tag zum Tanzunterricht. Sie ist einer von fünf jungen Menschen, die 15 Jahren später in einer UniSPIEGEL-Serie berichten, wie sie den Krieg überstanden. mehr...
Bar in Sarajevo: Mittlerweile arbeitet Alma Telibecirivic als Kulturmanagerin und organisiert Konzerte. Während der Belagerung, erzählt sie, sei Kunst etwas ganz Besonderes gewesen. "Wir mussten improvisieren."
Aufgewachsen im Krieg: Dejan Begic, 27, lebt heute in den Bergen. Die Belagerung Sarajevos hat er in einer Plattenbausiedlung im Osten der Stadt verbracht. Auch er berichtet von seiner Jugend, von Wasserknappheit und Angst vor Scharfschützen. mehr...
Allee der Scharfschützen: Hier lebte Dejan Begic während der Belagerung. "Irgendwann wird der Krieg Alttag", sagt er. "Du rennst, du hörst die Schüsse, du hörst Granaten fallen - es ist dir egal."
Spuren des Krieges: An vielen Stellen in Sarajevo sind noch Einschusslöcher zu sehen...
...und Dejan Begic kann sich auch noch an Granatenbeschuss erinnern. Einige nannten er und seine Freunde "Pig-Grenades", weil sie sich anhörten wie das Quieken von Schweinen.
Hoffnung auf Frieden: Einschusslöcher und ein Peace-Graffito in Sarajevo. Das Stadtbild wandelte sich während der Belagerung, Parks wurden zu Äckern, berichtet Begic.
Im Visier: Sarajevo, hier von einer Scharfschützenstellung aus zu sehen, war 1425 Tage eingekesselt.
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