Gigantisches Archiv im Stollen Bombensicheres Gedächtnis

Der Barbarastollen im Schwarzwald ist einer der bestgeschützten Orte Deutschlands: Atombombensicher lagert dort in 400 Meter Tiefe eine gigantische Menge historischer Dokumente - das Langzeitgedächtnis der deutschen Kultur.

Der Weg zum kulturellen Gedächtnis Deutschlands führt vorbei an Kuhweiden. Kurz hinter Oberried, einem idyllischen Ort nahe Freiburg, schlängelt er sich den Hang hinauf, vorbei an kleinen Bauernhöfen, ein Hund springt bellend aus einem Hof, als sei er Fremde nicht gewöhnt. Am Ende einer Abzweigung öffnet sich ein Wendeplatz, Vorhof des Barbarastollens, des Ortes der kollektiven Erinnerung.

Einst war der Stollen zur Suche nach Silber knapp 700 Meter in den Berg getrieben worden, heute lagern dort hüfthohe Fässer aus Edelstahl. Ihr Inhalt soll die Lebensversicherung unserer Kultur sein: Sie enthalten auf Mikrofilm kopierte Unikate aus der deutschen Geschichte - Verträge, Handschriften, Karten, Texte.

Hinter einer schweren Stahltür, rund 400 Meter tief im Berg, stehen die Fässer in doppelgeschossigen Regalen vor weißen Wänden. Ein Betonmantel wurde auf den Granit gelegt, kaltes Licht aus Neonröhren erhellt den langgezogenen Raum, konstante 10 Grad, Luftfeuchtigkeit 75 Prozent. Von außen betrachtet ist das kulturelle Gedächtnis Deutschlands unscheinbar und trist.

Stationen deutscher Geschichte, gebannt auf Mikrofilm

Doch die verborgenen Ausmaße sind gewaltig: Rund 825 Millionen Aufnahmen lagern hier in 1380 Fässern - jedes Jahr werden es mehr. "Pro Jahr werden 1,5 Millionen Aufnahmen gemacht", sagt Martin Luchterhandt, Oberarchivrat in Berlin. Bis zu vier Mal jährlich lagert man neue Fässer in den Stollen ein.

Das älteste Dokument stammt aus dem sechsten Jahrhundert, das jüngste ist der Spielplan der Bayreuther Festspiele aus dem Jahr 1989. Der Vertrag zum Westfälischen Frieden von 1648, die Krönungsurkunde Ottos des Großen von 936, die Baupläne des Kölner Doms und die Ernennungsurkunde Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler - Stationen deutscher Vergangenheit, gebannt auf Mikrofilm.

Die Einlagerung ist eine Konsequenz aus der Geschichte: Es war 1954, als die deutsche Regierung die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten unterschrieb. Tief saß der Schock über die Zerstörung von Bibliotheken, Archiven und Kulturgütern im Zweiten Weltkrieg. Nie wieder, da waren sich die Vertragsstaaten einig, sollte Kulturgut zum Kriegsopfer werden, denn das bedeute "eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit", so die Präambel. Ein Hintertor blieb freilich offen: Die Pflicht zum Schutz gelte dann nicht, wenn "die militärische Notwendigkeit dies zwingend erfordert".

Flugverbot und Sperrgebiet für Militär

Als die atomare Bedrohung im Kalten Krieg konkret wurde, entschied sich Deutschland zur Vorsorge: Das kulturelle Vermächtnis sollte gesichert werden - atombombensicher. Die Wahl fiel auf den Barbarastollen: In der Region gibt es kaum potentielle militärische Ziele, zudem ist der Schauinsland, in den der Stollen geschlagen wurde, durch sein hartes Gestein erdbebensicher.

Ab 1972 wurde der Stollen ausgebaut, drei Jahre später wurden die ersten Fässer eingelagert. Seither ist der Barbarastollen einer der bestgeschützten Orte Deutschlands: Er ist auf allen militärischen Karten verzeichnet, darüber gilt absolutes Flugverbot, die Bundeswehr darf sich in der Umgebung nicht aufhalten.

Drei nach unten hin spitze Schilde in Ultramarinblau und Weiß weisen am Eingang auf die Bedeutung des Ortes hin. Nur der Vatikan und das Reichsmuseum in Amsterdam tragen diese höchste Schutzstufe der Vereinten Nationen. Im Stollen sind Bewegungsmelder und Kameras angebracht, den Code zur Öffnung der Stahltür kennen nur zwei Männer vom Sicherheitsdienst.

Auch ohne Atombombenangriff oder Meteoriteneinschlag hat der Stollen sich schon als nützlich erwiesen. Als jüngst in Köln das Historische Archiv einstürzte, gingen zwar unersetzliche Unikate verloren - doch vollständig ausgelöscht ist das Kölsche Gedächtnis nicht. Rund 1,1 Millionen Aufnahmen aus dem Archiv lagern im Barbarastollen. So bleibt etwa das Prunkstück des Archivs, der Verbundbrief aus dem Jahr 1396, ebenso auf Mikrofilm erhalten wie der Kommentar des mittelalterlichen Gelehrten Albertus Magnus zum Matthäus-Evangelium.

Auch nach 500 Jahren reichen Sonnenlicht und eine einfache Lupe

Die Verfilmung war in Köln allerdings erst bis ins 19. Jahrhundert vorgedrungen. Das Privatarchiv des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll, das erst vor kurzem dem Historischen Archiv anvertraut worden war, wäre verloren, sollte es nicht in gutem Zustand aus den Trümmern geborgen werden können. Es würde das Schicksal mit rund 30.000 Unikaten teilen, die 2004 in der Anna-Amalia-Bibliothek verbrannten - und nicht verfilmt worden waren.

"Diese Art der Einlagerung ist grandios", frohlockt Lothar Porwich, beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz zuständig für den Schutz von Kulturgut. So antiquiert der Mikrofilm als Datenträger scheint, so zuverlässig ist er. Die Nutzbarkeit von CDs wird auf höchstens 50 Jahre geschätzt - der Film aber bleibt mindestens 500 Jahre lang lesbar. Die Lebensdauer der Aufnahmen im Barbarastollen soll gar noch verlängert werden: Es ist geplant, sie zwei Mal nach jeweils einem halben Jahrtausend zu kopieren.

Ein weiterer Vorteil: Digitale Speichermedien brauchen Geräte, die sie lesbar machen. Wegen der rasanten technische Entwicklung müssten die Daten ständig an den Fortschritt angepasst werden. Sollten nach der völligen Vernichtung allen digitalen Seins Menschen die Fässer öffnen, wäre der Blick in die Vergangenheit kein Problem. "Man braucht nur Sonnenlicht und eine einfache Lupe, um die Filme anzusehen, und kann sich dann Gedanken machen", schwärmt Porwich.

"Die Schatzkiste der Verwaltungsbürokratie"

Doch über was würden sich unsere Nachfahren Gedanken machen? Was würden sie im Bauch des Berges finden, welches Bild ergibt sich aus dem Mosaik der Dokumente? Was in den Stollen kommt, entscheiden die Chefarchivare der Länder. Zwei Vorgaben müssen sie beachten: Erstens müssen die Dokumente unter die "Dringlichkeitsstufe eins" fallen. Dazu zählen alle Verzeichnisse der abgeschlossenen Archive, alle handgezeichneten Karten und Pläne, 30 Prozent der Akten aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert und 15 Prozent der jüngeren Bestände. Die Verfilmung dieser Dokumente dauert an.

So genau die technischen Vorgaben, so vage sind die inhaltlichen: Die Richtlinien für den Schutz von Kulturgütern schreiben einen "repräsentativen Querschnitt in zeitlicher, regionaler und sachlicher Hinsicht" vor.

"Objektiv lässt sich schwer sagen, was wichtig ist", sagt Oberarchivar Martin Luchterhandt, Vorsitzender des Auswahlausschuss. Also wird abgefilmt, was die Landesarchive hergeben: Statistiken, Gerichtsakten, Gesetzestexte. Spektakuläre Beispiele lassen sich unter den Aufnahmen finden, doch in der Breite konservieren die Fässer das Vermächtnis der deutschen Verwaltung.

Für Aleida Assmann hat das wenig mit kulturellem Gedächtnis zu tun. "Es heißt ja oft: Schatztruhe der Nation - dabei ist das vor allem die Schatzkiste der Verwaltungsbürokratie", sagt die Kulturwissenschaftlerin. Sie hat den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt: Das Wissen aus und von der Vergangenheit, so ihre These, prägt unsere Persönlichkeit. Die Überlieferung durch Bibliotheken, Museen und Archive sorgt dafür, dass die Philosophie Kants ebenso wie der Holocaust noch heute dazu führen, dass wir nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive, kulturelle Identität besitzen.

Für die Wissenschaftlerin ist indes nicht nachvollziehbar, warum die Entscheidung über die Einlagerung allein unter Archivaren bleibt. "Über die Auswahl gibt es keinen Diskurs, da findet ein mechanischer Ablauf statt, der einmal in Gang gesetzt wurde und nicht mehr gestoppt werden kann", so Assmann. Allerdings habe sie im letzten Jahr auf dem Deutschen Archivtag ein Umdenken bemerkt: "Ich habe dort mit vielen Archivaren gesprochen, die leiden unter einem Öffentlichkeitsentzug." Es gebe einen Paradigmenwechsel, "die Bereitschaft zur Wandlung ist immens".

Ein Obstbauer beantragte Kulturschutz für sich selbst

Derzeit drückt sich diese Wandlung in vermehrten Sondereinlagerungen aus. Letztes Jahr war Lothar Porwich vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz in Köln und besuchte das Archiv der Philosophin Edith Stein. "Die würden wir gern einlagern", sagt er. Aufzeichnungen und Briefwechsel sollen verfilmt werden - kulturelles Futter fürs kulturelle Gedächtnis. Doch Assmann bleibt dabei: Die Einlagerungen würden "erst durch die Interaktion mit der Öffentlichkeit ihre Rechtfertigung erfahren".

Protest ganz anderer Art formierte sich vor rund 30 Jahren: Bis Ende der siebziger Jahre erfuhr niemand vom "Projekt Barbarastollen". In Oberried sorgten die Arbeiten am Stollen für Unruhe, die Lieferungen lösten Spekulationen aus: ein Munitionslager? Ein geheimer Kommandoposten? Niemand wurde informiert - die Medien nicht, der Bürgermeister nicht, Oberried nicht. Als das Geheimnis gelüftet wurde, schrieb der damalige Obstbauer und Friedensaktivist Martin Höfflin an Innenminister Gerhart Baum.

"Ich habe ihn damals gebeten, mich in das internationale Register der geschützten Kulturgüter aufzunehmen", erinnert sich Höfflin. Schließlich sei er auch so ein schutzwürdiges Kulturgut und habe das Kulturschutzabzeichen verdient. "Ich wollte auf den Unsinn der atomaren Bedrohung aufmerksam machen, der damals von Politikern als Vorwand für alles mögliche benutzt wurde."

Die Antwort aus Bonn folgte prompt: Es liege eine Verwechslung vor, Höfflin habe "Äpfel mit Birnen" verwechselt. "Da wir nicht annehmen, dass es sich bei Ihnen um eine historische Stätte, ein historisches Denkmal, oder eine Bibliothek handelt", könne Höfflin leider nicht unter Uno-Schutz gestellt werden.

Dem Obstbauern bleibt eine kleine Hoffnung: Sein Briefwechsel könnte abgelegt worden sein, vielleicht bekam er ein Aktenzeichen und wanderte ins Archiv. Auf Mikrofilm könnte sein Name in den Stollen kommen - atombombensicher geschützt, im Gedächtnis der Nation.

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten