Glosse "Elfenbeinturm, erster Stock"
Der Erstsemester
Er ist bereit, morgens um sieben vor dem Hörsaal zu biwakieren. Er ist neu und steckt voller Elan. Das ist auch gut so, denn gleich am ersten Tag des Studiums gibt es für den Studienanfänger eine ganze Menge zu erledigen.
Ein Blick auf die Uhr, es ist nach acht. Noch ein paar Schritte und zwei
Stufen, dann betritt Sven das erste Mal die Universität. Er hat seine neue
Ledertasche dabei, einen blütenweißen Ringblock und die Bundfaltenhose vom
Papa. "Jetzt beginnt der Ernst des Lebens, mein Sohn", hatte der gestern
abend gesagt, und Sven hatte melancholisch genickt.
In der Haupthalle herrscht gewaltiges Gedränge. Verzweifelt sucht Sven den
Weg zum Hörsaal 7. Schließlich beginnt um zehn die Einführungsveranstaltung,
und Sven will vorne sitzen und alles mitschreiben. Wer weiß, vielleicht
sagt der Professor ja Entscheidendes zur Prüfungsvorbereitung. Doch auch die
anderen Erstsemester hatten diese Idee. Seit sieben Uhr biwakieren sie
bereits mit Zelten und Luftmatratzen vor dem Hörsaal.
Kritische Masse gegen 12.34 Uhr an Ausgabe 3
Um sich die Zeit zu vertreiben, singen die Mädchen glockenhelle Lieder. "Donna nobis pacem" und "We shall overcome". Im Kanon natürlich. Sonja aus Karlsruhe klopft auf ihrem Poesiealbum den Takt. Sven sucht sich zwischen den Wartenden
einen Platz auf dem Boden und lernt Ulf aus Koblenz kennen.
Nur hundert Meter entfernt tagt derweil im Rektorat ein Krisenstab. Die
Task force "Erstsemester" ist zusammengetroffen und berät, wie der mittägliche
Andrang an den Mensatüren bewältigt werden kann. "Wir erwarten eine
kritische Masse gegen 12.34 Uhr an Ausgabe 3", sagt gerade der Prorektor und
schlägt ein massives Vorgehen der Sicherheitskräfte vor. Die Runde nickt
und schwärmt aus.
Kunstdrucke verstecken, die Erstis kommen
Doch schon um 12.02 Uhr sind die Pläne Makulatur. Eine sensationelle
Nachricht ("Es gibt Pommes Frites") hat unter den Erstsemestern
tumultartige Zustände ausgelöst. Alle wollen zuerst an der Ausgabe 3 eintreffen, keiner mag mit der Ersatzbeilage Reis vorlieb nehmen. Wie eine Springflut brandet das hungrige Volk gegen die noch geschlossenen Türen. Mensamarken werden
trotzig in die Luft gereckt. Denn zahme Vögel singen von der Freiheit,
wilde Vögel essen Pommes. Auch Sven ist dabei und drängelt und schubst und vertreibt mit seiner Ledertasche die Konkurrenten.
Nach dem Essen steht auch für Sven eine Bibliotheksführung an. Deshalb
herrscht jetzt schon Hochbetrieb zwischen den Bücherregalen. Hektisch
verstauen Sondereinsatzkräfte besonders wertvolle Bücher, Erstausgaben und
Kunstdrucke in Stahlkisten, die außer Haus geschafft werden, bis die
Bibliotheksführungen und Schnupperkurse überstanden sind.
Hundertschaften junger und neugieriger Menschen werden durch die Regalschluchten geschleust und erfahren Verblüffendes über Sinn und Zweck der Bibliothek ("Das ist ein Buch. Es besteht aus Blättern, die man Seiten nennt. Und aufgepasst: Die
Seiten sind nummeriert"). Jeder Erstsemester darf sogar einmal ein Buch
anfassen. Es müssen ja nicht gerade die Kunstdrucke sein.
Beginn einer wunderbaren Freundschaft?
Irgendwann fällt Sven ein, dass er ja noch eine Studienordnung braucht.
Geschwind zum Dekanat, wo eine tapfere Sekretärin die Papiere verteilt.
Ute aus Flensburg fragt verzagt: "Was sind denn Semesterwochenstunden",
und Sven erklärt ihr väterlich: "Das sind Sprechstunden beim Professor, die
Du unbedingt wahrnehmen musst. Sonst wirst Du exmatrikuliert." Da nickt
Ute, schaut auf die Uhr und erschrickt - schon vier. Und um vier beginnt das
Tutorium in Mittellatein. Hastig rennt sie mit ihrer allerbesten Freundin
Charlotte, die sie eben kennen gelernt hat, in den dritten Stock.
Sven hingegen ist irgendwie müde. Neben ihm sitzt Ulf, der aus der
Einführungsveranstaltung. Ob man einen Kaffee trinken gehen solle, fragt
Ulf. Nicht in der Uni, sondern in der Stadt. Das tun sie dann auch. Und in
einem halben Jahr werden sie am ersten Tag des neuen Semesters daheim
bleiben. Ausschlafen und Kaffee trinken. Und Witze machen über
Erstsemester.
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