Glosse "Elfenbeinturm, erster Stock"
Der Langzeitstudent
Eigentlich wollte er sich längst zur Zwischenprüfung anmelden. Aber dann kam so vieles dazwischen - die Bundestagswahl, der heiße Sommer, ein eingewachsener Fußnagel. Und für sein Endlos-Studium könnte Heiner noch tausend Gründe nennen, wenn er nur welche wüsste.
Erst hatte sich die Nachbarin ein bisschen vor Heiner gefürchtet. Weil er doch vormittags immer mit einer alten Rosshaardecke auf dem Kopf zum Bäcker um die Ecke ging, direkt unter ihrem Fenster und unrasiert wie damals Egon, als er aus Russland heimkam. Aber dann hatte sie einen Brief gefunden, von der Universität an den jungen Herren. Kein Serienkiller also, sondern nur ein Student. Das erklärte einiges, sogar die Decke auf dem Kopf.
Heiner ist wirklich Student, und das schon ziemlich lange. Deshalb hat er jetzt dieses maschinell erstellte, darum nicht unterschriebene Schreiben von der Universität bekommen, er sei "schon im 28. Semester". Und obendrein die Aufforderung "zu einem Gespräch mit unserem Studienberater".
Nun sitzt Heiner also beim Berater, der eine Lesebrille aufhat. An der Wand dieser Spruch, der verkündet, dass sich der Büroinsasse keinesfalls hetzen lässt, weil er schließlich auf der Arbeit und nicht auf der Flucht ist. Heiner wäre jetzt gerne auf der Flucht. "Sie haben sich 1982 eingeschrieben", sagt der Berater und blättert in den Unterlagen.
"Petting statt Pershing" - eine glatte Lüge
Heiner weiß das nicht mehr so genau. Auf jeden Fall waren die Postleitzahlen damals vierstellig, die Zauberwürfel brandneu. Und die jungen Mädchen trugen Jeans, die aussahen wie Karotten. An ihren Blusen hingen große Buttons, auf denen "Petting statt Pershing" stand.
Was aber glatt gelogen war, er hatte das getestet. Die Mädels standen zumindest eher auf Mittelstreckenraketen als auf Heiner.
Dann hatte er sich zur Zwischenprüfung angemeldet. Das heißt, er hatte sich so gut wie angemeldet. Also, er hatte quasi mit dem Gedanken gespielt. Aber dann war so vieles dazwischen gekommen. Die Bundestagswahlen, der heiße Sommer, ein eingewachsener Fußnagel. Noch was vergessen? "Die Volkszählung!" ergänzt Heiner.
Der Berater rollt die Augen. Das sei 1987 gewesen und seither doch genügend Zeit, um die Zwischenprüfung nachzuholen.
Nun ist es aber an Heiner, mit den Augen zu rollen. Damals war schließlich Golfkrieg, er saß als Abgeordneter in der Volksvertretung. Im Studentenparlament, um genau zu sein. Auf Listenplatz 2 für das "Antikapitalistische Forum". Neben ihm hatte damals sein Parteifreund, der rote Lutz, gesessen und eifernde Brandreden gegen den Imperialismus und das Rektorat gehalten.
Nächstes Jahr ein neuer Anlauf. Vielleicht.
Lutz ist heute Wirtschaftsanwalt in Frankfurt, hat unlängst zwei Baulöwen rausgepaukt. Schwarzarbeiter beschäftigt, trotzdem Freispruch.
Immerhin hatte ihm Lutz damals geholfen, eine Seminararbeit zu schreiben, in Politologie. Aber der Professor hatte ihm den Schein nicht gegeben, wegen handwerklicher Mängel. Dabei hatte er bloß auf Zitate verzichtet und statt Fußnoten kurze Aphorismen angefügt. Las sich doch irgendwie viel besser.
Die Beratung ist dann irgendwann zu Ende, Heiner geht nach Hause. Vielleicht wird er es ja im nächsten Jahr noch mal probieren, mit dem Studium und der Zwischenprüfung. Obwohl nächstes Jahr ja Bundestagswahl ist. Der Fußnagel schmerzt schon jetzt. Und der Sommer wird sicher verdammt heiß.
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