Uni-Crashkurs bei Professor Multimedia So funktioniert das Studium
Er hatte gerade das erste Video ins Netz gestellt, da trafen sich die Mitarbeiter des Rechenzentrums zur Krisensitzung. Der Server der Uni Osnabrück lief heiß, Datenberge wurden aus dem System gesaugt, es drohte zusammenzubrechen. Wer tat so was? Und: Warum?
Später tauften die Mitarbeiter das Phänomen die Vornberger-Flanke: Jedes Mal wenn Professor Vornberger eine neue Folge seiner Vorlesung hochgeladen hatte, stieg der Netzverkehr wie eine Kurve in der Grafik sprunghaft an. Irgendwann reagierte die Uni und lagerte Videos in ein anderes Rechenzentrum aus.
Viele von Vornbergers Kollegen graust es vor der Kamera. Was, wenn ein Fehler passiert? Ein Witz misslingt? Wenn das Video im Netz kursiert, Studenten lachen, Kollegen spotten? Vornberger kennt die Gedanken, aber sie schrecken ihn nicht ab.

Als das Niedersächsische Wissenschaftsministerium vor zehn Jahren mehr Multimedia in der Lehre forderte, hob er die Hand. "Ich habe gesagt: Okay, ich spiele das Versuchskaninchen", sagt er, er hatte immer schon ein Faible für Filme. Damit war er deutschlandweit einer der ersten Professoren, die sich ins Internet trauten, wo jeder folgen konnte.
Dabei sieht er nicht aus wie jemand, der gern experimentiert: Oliver Vornberger lehrt seit rund 25 Jahren als Professor an der Uni Osnabrück Informatik, heute ist er 61 Jahre alt, er spricht ruhig, seine Haare sind grau, die Brille randlos, der Pulli hochgeschlossen. Die Adjektive bodenständig, sympathisch, unauffällig passen eher zum ihm als revolutionär. Und doch hilft er mit, die Lehre weltweit zu verändern.
Vornberger zeigt, wie die Zukunft aussehen kann
Kurz nach der Jahrtausendwende prophezeite die Bertelsmann Stiftung, bis 2005 werde mindestens jeder zweite Student wenigstens einzelne Teile des Studiums online durchlaufen. Sieben Jahre später ist E-Learning nur an wenigen Unis mehr als ein Schlagwort. Vornberger will das ändern, genauso wie sein Kollege Sebastian Thrun: Zu seinem Online-Einführungskurs an der Uni Stanford über Künstliche Intelligenz meldeten sich im vergangenen Jahr 160.000 Studenten aus 190 Ländern an.
Sie zeigen, wie die Lehre der Zukunft aussehen kann. Auch dafür hat Vornberger vom Stifterverband und der Hochschulrektorenkonferenz vor drei Jahren den mit 50.000 Euro dotierten "Ars Legendi-Preis" für exzellente Lehre erhalten. Seine Podcasts gehörten zu den "beliebtesten Angeboten dieser Art", lobten sie. Im gleichen Jahr bekam er den Wissenschaftspreis Niedersachsen.
Dabei, erzählt er, habe er nicht geplant, Informatik-Professor zu werden. Als Schüler drehte er gern Filme, "Oskar - der Hamster" beispielsweise. Vielleicht wäre er Dokumentarfilmer geworden, wenn er nicht als 16-Jähriger das Buch "Was denkt sich ein Elektronengehirn?" gelesen hätte. "Ich war hin und weg", sagt er. Kurz darauf kaufte er sich für einige hundert Mark einen Taschenrechner und verkroch sich in sein Zimmer.
Als er Mitschülern erzählte, dass er Informatik studieren will, wussten sie nicht, was das ist. An der Uni Dortmund gehörte er zu den ersten Informatik-Studenten Deutschlands. Später promovierte er und bewarb sich am Institut für wissenschaftlichen Film in Göttingen. Er wurde abgelehnt. "Junger Mann", habe der Chef gesagt, "gehen Sie zurück an die Uni. Ihnen steht eine große wissenschaftliche Karriere bevor."
Wanderungen, Grillabende und Gruppenfotos mit Studenten
Ein begnadeter Forscher sei er nie gewesen, sagt Vornberger, er habe aber immer gern Kompliziertes erklärt. Darauf hat er gesetzt, auch wenn viele Kollegen ihn belächelten, weil er Studenten als Kunden betrachtet, die nicht stören, sondern die er zufrieden stellen möchte. Auch wenn sich das Gewicht etwas verschoben hat, gilt an der Uni Forschung meist immer noch mehr als Lehre. "Der Ars Legendi-Preis war für mich ein später Triumph", sagt Vornberger. "Es war wie ein Donnerschlag, viele zuckten zusammen: 'Ah, Lehre ist doch wichtig.'"
Die Lehre brachte ihm nicht nur Preise ein, auch die renommierte Uni Berkeley meldete sich bei ihm und dem Team "Virtuos" von der Uni Osnabrück, das ihn von Anfang an unterstützt hat. Berkeley wollte einen internationalen Standard für Vorlesungsaufzeichnungen erarbeiten und hatte oft von den Pionieren aus Osnabrück gehört. "Wir fühlten uns extrem gebauchpinselt", sagt Vornberger. Also entwickelten sie mit den Unis Cambridge und Zürich eine frei zugängliche Software: Sie erleichtert es, Vorlesungen aufzuzeichnen.
Vornberger genießt die Aufmerksamkeit und die Bestätigung, vergisst aber seine Kunden nicht. Er verkörpert einen Typ Professor, wie ihn sich viele wünschen: Einen, der sich interessiert. Im Flur der Osnabrücker Informatik hängen Gruppenfotos von seinen Studenten, einmal im Jahr lädt er sie zu einer Wanderung ein, im Sommer empfängt er Tutoren und Examens-Kandidaten zum Grillabend.
Und die Studenten, die erstmals seine Vorlesung "Algorithmen" besuchen, begrüßt er mit Fragen. Mit rotem Pulli und Headset steht er vor ihnen und will wissen, wer was studiert, wer woher kommt. "Wer ist der jüngste?" Keiner meldet sich. "Sie sehen, dass war eine algorithmisch unsauber definierte Frage. Also, ich frage noch mal neu: Wer ist 17 Jahre und jünger?" Eine meldet sich. "17 Jahr, kein blondes Haar, aber die jüngste offenbar", sagt Vornberger trocken. Lachen im Hörsaal.
Jeder kann die Vorlesung bei YouTube oder iTunes sehen. Während manche das als Klamauk verteufeln, sagt Vornberger: Das verbessere die Lehre. Denn Dozenten bereiten sich besser vor, wenn ihnen nicht mehr hundert Studenten zuhören, sondern Tausende Fremde.
Aus dem Fernsehen sei man Anfang und Ende gewohnt, sagt Vornberger. Das versucht er zu übertragen. Er überlegt sich, wie er einsteigt, wie er die Tafeln des Hörsaals beschreibt, und er fragt sich: Wie mache ich Lust auf die nächste Vorlesung? "Wir wissen ja aus den Seifenopern, dass sie am Ende einen Cliffhanger einbauen. Also: Wer erschoss JR?", sagt er. "Ich ertappe mich dabei, dass ich überlege, wie ich das bei mir einbauen kann. Also: Kann Quicksort es schaffen, n Zahlen in n*log(n) zu sortieren? Dazu mehr am nächsten Dienstag."
Ein Kollege habe mal gesagt: "Sie versuchen die Studenten zu unterhalten, das ist nicht Ihre Aufgabe!" Immerhin gelingt es Vornberger, auch jene anzusprechen, die Vorlesungen nicht hören, weil sie müssen, sondern weil sie wollen. Schüler, Rentner, Hausfrauen, Ingenieure. Nach dem ersten öffentlichen Video vor nicht ganz zehn Jahren bekam er Mails aus ganz Deutschland: "Ich freue mich auf die nächste Episode", schrieb jemand. Vornberger sagt: "Es gibt nichts Schöneres im Leben eines Hochschullehrers als solche Mails zu bekommen."
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