Junge Tunesier "Oh Schiff, bring mich heraus aus dem Elend"

Blick übers Mittelmeer: Auf der anderen Seite liegen Italien, Europa - und das Glück?
Foto: Marc RöhligNabil* schiebt seinen Daumen über die Handytastatur und steuert den Song an. "Ya l'babour, ya mon amour" - der erste Satz trägt schon Nabils ganzen Traum in sich. Doch er wird gesungen mit einer Stimme, die wenig verträumt klingt. Viel eher verzweifelt, anklagend, bettelnd. Nabils Blick wandert über die tunesische Küste hinaus auf das Mittelmeer und verschwimmt mit dem Horizont. Sein Handy spielt leise den Rapsong weiter. Für den 25-Jährigen und viele nordafrikanische Jugendliche ist das Lied "Ya l'babour" eine Hymne: "Oh du Schiff, meine Liebe - bring mich heraus aus dem Elend".
Der Text stammt vom algerischen Rapper Reda Taliani. 2006 eroberte sein Lied die Charts der nordafrikanischen Länder und machte ihn über Algerien hinaus bekannt. Taliani rappt über Hoffnungslosigkeit in den Maghreb-Staaten und sieht nur eine Möglichkeit für seine Altersgenossen: "Nutze deine Chance [ ] und gehe in den Okzident." Taliani, heute 29 Jahre alt, hat seine Chance durch den Erfolg des Songs genutzt. Er lebt und arbeitet inzwischen in Paris.
Seine Fans hingegen - und Nabil sagt von sich, er sei "einer der größten" - leben immer noch in Tunesien, Algerien oder Marokko. Sie warten auf ihre Chance auf ein anderes, ein besseres Leben. Viele Afrikaner versuchen jährlich den Sprung von Nordafrika nach Europa. Aus dem ganzen Kontinent schlagen sie sich bis an die Küsten der Maghreb-Staaten durch.
Die letzte Strecke, mit dem Boot nach Italien, Griechenland oder Spanien, gilt als die gefährlichste. Nach Angaben des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerkes der Uno, flohen 2008 rund 2350 Flüchtlinge aus Tunesien gen Norden. Rechnet man die Flüchtlinge aus anderen Maghreb-Staaten hinzu, waren es 116.500, die meisten aus Ländern südlich der Sahara.
"Ohne Risiko kein Lohn"
Viele junge Tunesier hoffen auf die Überfahrt nach Europa. Bei wolkenfreiem Himmel kann man von Al-Huwariyah im Norden Tunesiens die Küste Siziliens sehen, Europa fühlt sich greifbar an. Und es klingt sogar greifbar: "Seit ich denken kann, hört meine Familie italienisches Radio", sagt Nabil, "der Empfang ist zwar schlecht, aber er funktioniert." Er will nichts sehnlicher als "endlich weg".
Nabil wirkt eigentlich, als gehe es ihm gut in Tunis. Er trägt "Ed Hardy"-Klamotten, iPod-Kopfhörer lugen aus seinem Sweater hervor. Dennoch sieht er für sich keine Zukunft: "Dieser Staat macht mich fertig." Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die Ausbildung an Schulen und Universitäten unzureichend. Nabil selbst war Schüler in Tunis' Arbeiterviertel Bab Suika, flog mit 17 Jahren von der Schule und begann danach eine Ausbildung zum Koch. Doch dort wurde er wieder gefeuert, "der Chef, du weißt schon".
Nabil hat sich daher einen Plan zurechtgelegt. Er will mit dem Boot von Tunesien nach Italien. Dort arbeitet bei einer Sicherheitsfirma sein großer Bruder; der hatte die nächtliche Schmuggelaktion vor fünf Jahren hinter sich gebracht und schickt der Familie heute regelmäßig Geld. Ein Vorbild. Klar sei die Überfahrt gefährlich, sagt Nabil, "aber ohne Risiko kein Lohn".
Träume von Volkswagen und Schwarzenegger
Jeder zweite junge Tunesier zwischen 18 und 25 Jahren hat laut Menschenrechtsorganisation "Borderline Europe" den Wunsch, seine Heimat zu verlassen. Viele nehmen dafür das hohe Risiko beim Menschenschmuggel auf dem Wasser auf sich: In überladenen, veralteten Frachtern lassen sie sich von Mafia-Banden über das Mittelmeer bringen. Nicht selten kentert ein Schiff, die Insassen ertrinken. Oder sie werden von Patrouillenschiffen aufgegriffen und in Lager gesperrt. Auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa ist solch ein Lager. Dennoch ist Lampedusa, neben Pantelleria und Sizilien, Hauptanlaufstelle für die tunesischen Schleuser.
"Sie fahren meist zu Ramadan oder bei Wahlen, also wenn die Regierung wegsieht und beschäftigt ist", erzählt Nabil. Für ihn soll es in einer Bucht südöstlich von Tunis losgehen. Der Plan: Das Schmuggelschiff bringt ihn bis auf hundert Meter an den Strand von Lampedusa heran - dann muss er um sein Glück schwimmen. Wird Nabil in Lampedusa nicht aufgegriffen, kann er sich von der italienischen Mafia - sie kooperiert mit den tunesischen Schleusern - Papiere besorgen und über Sizilien weiter nach Italien kommen. In dem Moment, wo er europäisches Festland betritt, wird er bei der italienischen Mafia neu verschuldet sein. Dieser Weg ist der einzige Plan, der Nabil möglich erscheint.
Ganz anders sieht der Plan von Hamad, 22, aus. Er studiert an der Universität von Tunis Ingenieurwissenschaften. Sein Plan: "Im Frühjahr werde ich nach Deutschland reisen und dort an einer Fachhochschule studieren." Hamad spricht es wie eine Wegbeschreibung aus: "Fachhochschule" - jede Silbe wie eine neue Abzweigung. Er hat das Wort an einer Sprachschule in Tunis' lebhaftem Stadtviertel El Omrane gelernt. Seit einem Monat sitzt er hier in einem Deutschkurs.
"Unser Kurs ist zweigeteilt, zwei Monate hier und dann sieben in einer Partnerschule in Frankfurt", sagt Hamad. Die Sprachschule kümmert sich um den Austausch, hilft bei Visa-Anträgen und informiert über Studienangebote in Deutschland. Je nach Level kosten die Kurse 150 bis 220 Dinar, bis zu 110 Euro pro Monat. Es gibt 30 Wochenstunden, die Schule ist gut besucht. Außer Deutsch sind Spanisch und Russisch die Renner an der Schule.
Kunden sammeln für die Menschenschmuggler
Die Lust auf Fremdsprachen erklärt Hamad durch Tunesiens Geschichte: "Französisch liegt uns im Blut - und die anderen Sprachen interessieren uns, weil wir hier schon immer viele Touristen hatten." Er schiebt seine Brille auf der Nase nach oben. Will er also nach seinem Studium zurückkommen und in die Tourismusbranche gehen? Auf keinen Fall, meint Hamad: "Ich will in Deutschland bleiben, wenn ich darf. Und für Volkswagen arbeiten." Sein Lehrer sagt, jeder zweite seiner Schüler komme nicht aus Europa zurück.
Auch Nabil hat einen Traum, den er in Europa verwirklichen will. Hier in Tunesien bestreitet er gelegentlich Boxwettkämpfe und macht Bodybuilding. In Europa will er so "zum neuen Arnold Schwarzenegger" werden. Sein Wunsch wird ihn zuerst rund 3000 Dinar, gut 1500 Euro, kosten. So viel verlangt der Kapitän für die illegale Überfahrt. Viele Jugendliche stehlen, um das Geld aufzubringen. Aber das sei nichts für ihn, sagt Nabil, er habe einen besonderen Deal ausgehandelt: "Wenn ich dem Kapitän vier Leute bringe, die zahlen können, fahre ich umsonst mit." Bis jetzt hat er schon zwei "Kunden" gesammelt.
Nabil, Hamad, beide haben ihren Traum von Europa. Und beide kennen sie die letzte Zeile aus dem Refrain von Taliani: "Fi bli ça fait longtemps, nikhdem' ahliha jour et nuit" - Ich habe es schon lange im Kopf, ich werde Tag und Nacht dafür arbeiten.
(*Name geändert)