Fehler im Praktischen Jahr Medizinstudent wegen Babytod verurteilt

Fataler Fehler im Praktischen Jahr: Weil er einem Baby versehentlich eine tödliche Spritze verabreicht hat, wurde ein junger Arzt wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Es ist das erste Mal, dass ein Mediziner wegen Fehlern in der Ausbildung belangt wird.
Medizinstudent W. mit seinen Verteidigern: "Was passiert ist, belastet mich sehr"

Medizinstudent W. mit seinen Verteidigern: "Was passiert ist, belastet mich sehr"

Foto: Michael Billig

90 Tage. Das wurde das Ziel der Verteidigung, nachdem klar war, dass ein Freispruch nicht zu erwarten war. Eine Strafe von 90 Tagessätzen taucht nicht im Führungszeugnis auf, mit dem sich W. in Zukunft um Arztstellen bewerben wird. Dass er mal wieder auf Jobsuche sein wird, ist sehr wahrscheinlich: W. ist erst 31 Jahre alt, er steht am Anfang seiner Berufslaufbahn. Und noch bevor diese überhaupt begonnen hat, passierte ihm das Schlimmste, was einem Arzt passieren kann: Weil W. eine falsche Spritze setzte, starb ein Baby. Da war er 29 Jahre alt und noch Student.

Das Landgericht Bielefeld hat den jungen Mediziner jetzt im Berufungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung zu 90 Tagessätzen á 20 Euro verurteilt. Es ist das erste Mal in Deutschland, dass ein Mediziner für einen Fehler, der ihm in der Ausbildung unterlief, strafrechtlich verfolgt und belangt wird. Das Urteil könnte auch Auswirkungen auf die Mediziner-Ausbildung haben: Welche Tätigkeiten dürfen angehende Ärzte in Krankenhäusern ausüben und welche nicht - und wie können diese Richtlinien in der Praxis gesichert werden?

W. hatte in Münster Medizin studiert. In einem Evangelischen Krankenhaus in Bielefeld absolvierte er sein Praktisches Jahr (PJ), den letzten großen Praxistest vor dem Berufsleben. Am Morgen des 22. August 2011, W. war seit einer Woche auf der Kinderkrebsstation, stand er neben dem Krankenbett eines zehn Monate alten, an Leukämie erkrankten Jungen. Außer W. befand sich nur die Mutter des kranken Kindes in dem Raum.

W. nahm dem Jungen Blut ab. Dann nahm er eine Spritze mit einem flüssigen Antibiotikum, die eine Krankenschwester kurz vorher in den Raum gebracht hatte. Er spritze es dem Baby über ein Infusionssystem in eine Vene. Ein fataler Irrtum. Das Medikament darf nur oral, über den Mund, verabreicht werden. Der Junge erlitt einen schweren allergischen Schock und starb.

Die Mutter sollte dem Kind das Medikament einträufeln

Die Staatsanwaltschaft Bielefeld erhob später Anklage gegen W. Niemand habe den Studenten beauftragt, das Medikament zu verabreichen, lautete die Begründung. W. habe dem Baby lediglich Blut entnehmen sollen, sagten Ärzte und Pflegepersonal aus. Den Zeugen zufolge habe die Mutter ihrem Sohn das Antibiotikum einträufeln sollen.

Im Oktober vergangenen Jahres verurteilte das Amtsgericht Bielefeld W. wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 1800 Euro verteilt auf 120 Tagessätze. W. ging in Berufung. Er habe es sehr wohl als seinen Auftrag verstanden, dem Kind zunächst Blut abzunehmen und anschließend ein Medikament zu injizieren. "Bei mir hat kein Zweifel bestanden", beteuerte er. "Was passiert ist, belastet mich sehr."

Im Berufungsverfahren, das nun zu Ende ging, forderte die Verteidigung Freispruch für den angeklagten Mediziner. Es bestehe ein "eklatantes" Organisationsverschulden seitens des Krankenhauses. Es habe zum Beispiel an der Bielefelder Klinik weder schriftliche Einarbeitungskonzepte für Studenten im Praktischen Jahr noch einen persönlichen Mentor gegeben. Zudem waren die Spritzen für orale und intravenöse Verabreichung identisch. So sei für den Studenten nicht erkennbar gewesen, dass das Antibiotikum über den Mund gegeben werden musste, argumentierte die Verteidigung.

Nach dem Vorfall stellte das Krankenhaus sein Spritzensystem um. Die neuen Spritzen, die fortan für die orale Medikamentengabe eingesetzt werden, passen nun nicht mehr an ein Infusionssystem. Der Anschluss sei nicht kompatibel, berichtete der Chefarzt vor Gericht. Wäre die Umstellung früher erfolgt, wäre der Fehler vermieden worden, urteilte ein Sachverständiger.

W. hat eine Stelle als Arzt gefunden

Diese Einschätzung änderte jedoch wenig an dem Urteil des Landgerichts. Es setzte zwar die Strafe um 30 auf 90 Tagessätze herab, doch trägt der junge Arzt juristisch die Alleinschuld an dem Tod des Kindes. Weder der Chefarzt der Bielefelder Kinder- und Jugendmedizin noch die Krankenschwester, die die Spritze aufgezogen und unbeschriftet in das Patientenzimmer gelegt hatte, werden belangt. Das Verhalten von W. sei nur mit einem Blackout zu erklären, urteilte der Bielefelder Richter. Er hätte nachfragen müssen, was es mit der unbeschrifteten Spritze auf sich habe.

Ob W. das Urteil erneut anficht, ließ er zunächst offen. Nur einmal während der drei Prozesstage hatte er zu den Eltern des Babys geschaut, die ihm gegenüber saßen. Es tue ihm sehr leid, hatte er in Richtung des Ehepaars gesagt. Die meiste Zeit hatte er seinen Blick jedoch nach unten gerichtet, das Gesicht blass, die Hände ineinander gefaltet.

"Einen solchen Fall gab es noch nie", sagt der Jurist Peter Ernst. Ernst promoviert an der Universität Düsseldorf über die "Haftung des Arztes im Praktischen Jahr". Bislang seien Studenten allenfalls zivilrechtlich verklagt worden, berichtet er. "Aber auch das kommt nicht oft vor." Nur wenige Fälle seien ihm bekannt, und die lägen mehr als 20 Jahre zurück.

W. kann trotzdem weiter als Arzt arbeiten: Die Bezirksregierung Münster erteilte ihm im Januar 2013 die Approbation. Der Jungmediziner hat inzwischen eine Stelle als Arzt in einem Krankenhaus gefunden.

Az.: 18 Js 279/11

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren