Kaderschmiede Büffeln mit Beamtenbonus
Im Ruder-Achter sitzen normalerweise ein Steuermann und acht Ruderer. Wenn die Mannschaft der "École Nationale d'Administration" (ENA) antritt, ist das anders: Acht wollen steuern, einer rudert. Auch ENA-Absolventen lachen gern über diesen Witz, und dann sagen sie: Na ja, da ist was dran. Schließlich bildet das Renommierinstitut nicht für kleinteilige Kärrnerarbeit aus.
Seit Jahrhunderten ziehen die französischen Eliteuniversitäten den Führungsnachwuchs für Politik, Wirtschaft und Verwaltung heran. Die ENA, obwohl erst 1945 von Charles de Gaulle gegründet und damit eine der jüngsten "Grandes Écoles", gilt als die angesehenste Kaderschmiede.
Staatspräsident Jacques Chirac ist ebenso "Enarque" wie Ex-Premier Lionel Jospin oder EZB-Chef Jean-Claude Trichet. Sechs der letzten neun Premierminister in Paris kamen von der ENA. Wer hier den Abschluss macht, schreibt keine Bewerbungen. Die Ministerien, die Spitzen der Verwaltung, die Topunternehmen klopfen direkt bei ihm an.
Interessanter Job, sozialer Aufstieg
Guillaume Dederen kann also guter Dinge sein. Seit Januar dieses Jahres besucht der 35-Jährige die ENA, und was er sich davon verspricht, lässt sich präzise formulieren: Interessanter Job. Sozialer Aufstieg. Hohes Gehalt.
Dederen hat Immobilienkaufmann gelernt, dann Literatur an der Sorbonne studiert und als Lehrer gearbeitet. Wenn er die ENA abgeschlossen hat, wird er in einer anderen Welt angekommen sein. Er möchte im Staatsrat arbeiten oder in einer Präfektur.
Wie muss man gestrickt sein, um an der ENA Erfolg zu haben? Dederen zögert keine Sekunde. "Enarchen sind seriös und hervorragende Analytiker", sagt er, "sie können sich gut organisieren, sind diszipliniert und arbeiten hart."
Sich einen Stundenplan zu basteln, der es erlaubt, nie vor 11 Uhr an der Uni zu sein, kommt hier nicht infrage. Denn der Traum des ENA-Gründers de Gaulle war nicht Laisser-faire, sondern die Meritokratie: Die Besten sollten die optimale Ausbildung bekommen. Leistungsprinzip und hartes Arbeiten sind selbstverständlich. Das beginnt schon bei der Bewerbung.
"Pantouflage" der Erstplatzierten
Drei Wege führen zur ENA: Eine externe Prüfung für Studenten, die bereits ein Uni-Diplom besitzen. Eine interne für Funktionäre des öffentlichen Dienstes sowie ein drittes Verfahren für Angestellte mit mindestens acht Jahren Berufserfahrung außerhalb der Verwaltung.
Sie alle müssen durch den "concours", ein strenges und anonymes Auswahlverfahren, das vor allem Allgemeinbildung testet. "Der Concours steht jedem offen", sagt ENA-Direktor Antoine Durrleman, "er ist zutiefst demokratisch." Von im Schnitt 3000 Anwärtern pro Eliteschule schaffen etwa 100 diese Hürde. Dederen hat zehn Stunden täglich für den Concours gelernt, ein ganzes Jahr lang. "Das war noch schnell."
Für die gut 120 französischen Enarchen, die es schaffen, fängt der Leistungsdruck dann erst an. "Die Franzosen sehen sich mehr als Konkurrenten denn als Kommilitonen. Da herrscht oft knallharter Wettbewerb", sagt die Deutsche Katrin Moosbrugger, die als eine von gut 50 Ausländern Anfang des Jahres die ENA abgeschlossen hat.
Das liegt vor allem am "classement", einem peniblen Ranking der Examensergebnisse. Gegen Ende der 27 Monate langen Ausbildung melden Ministerien und Unternehmen ihre freien Stellen. Diese werden unter den Absolventen streng nach ihrem Rang in der Abschlussprüfung verteilt.
Wer dabei unter den Erstplatzierten ist, hat beinahe freie Auswahl - und Zugang zu den begehrten "grands corps", darunter der Staatsrat und das diplomatische Korps. Die neuen Arbeitgeber vertrauen derart auf das rigide Auswahlverfahren, dass sie die ENA-Absolventen meist unbesehen aufnehmen. "Pantouflage" nennen Franzosen das Phänomen, das Enarchen quasi in Pantoffeln auf Positionen einsteigen lässt, die anderen erst nach jahrelanger Berufserfahrung zugänglich sind.
Die Vorteile der "Grandes Écoles"
Der entscheidende Vorteil der "Grandes Écoles" ist die Praxisorientierung. "Das ist eine Art Fachhochschule de luxe", sagt Henrik Uterwedde, stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg. Die Jung-Enarchen absolvieren das erste Ausbildungsjahr in Praktika ("stages") - meist in einer Präfektur und einer Botschaft.
Die Stages sind kaum vergleichbar mit den berüchtigten Kaffee- und Kopier-Stationen von Praktikanten hier zu Lande. Die ENA-Hospitanten verantworten Projekte, sie unterstehen direkt dem Präfekten oder Botschafter, ja, sie vertreten ihn häufig bei offiziellen Anlässen und fahren im olivgrünen Dienstwagen vor.
"Ich war absolut integriert in die Verwaltung und hatte sogar Zugang zu sicherheitsrelevanten Informationen", erinnert sich Heinrich Lieser, Chef der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer und von 1989 bis 1990 an der ENA. Lieser machte sein Praktikum (für Ausländer nur drei Monate) in der Präfektur in Französisch-Guyana und hat die Sicherheitsmaßnahmen beim Start der "Ariane" mitorganisiert.
Der zweite Teil der Uni-Zeit besteht aus Projektarbeit und Vorlesungen in Jura, Ökonomie, Diplomatie. Ausbildungsziel: Generalist. "Man kriegt 100 Seiten Akten und fasst das Wichtigste als zweiseitige Beschlussvorlage für den Minister zusammen", erklärt Moosbrugger die Vorbereitung auf den Behördenalltag. Eine Praxis, die die Enarchen zu umsetzungsstarken Analytikern formen soll.
Kein Wunder, dass die Absolventen auch in der Wirtschaft begehrt sind. Obwohl die ENA eine Verwaltungshochschule ist, finden sich unter den Top-Enarchen viele Wirtschaftsführer - etwa Louis Schweitzer, Vormann von Renault, oder Michel Bon, Ex-Chef der France Télécom.
Korpsgeist und Kommunikationsnetze
Zwar sind die ENA-Absolventen verpflichtet, mindestens zehn Jahre im Staatsdienst zu arbeiten. Oft kaufen Unternehmen ihre Wunschkandidaten aber frei - das exzellente Netzwerk der Enarchen ist ihnen das wert. Jeder fünfte ENA-Absolvent arbeitet in der freien Wirtschaft.
Die Folgen des Enarchentums - Korpsgeist und bessere Kommunikation zwischen den Eliten in Politik und Wirtschaft - sind bis heute in der Industriepolitik Frankreichs zu besichtigen. "Die Topmanager in Frankreich haben viel engere Beziehungen zur Politik als etwa in Deutschland - sie haben ja gemeinsam die Schulbank gedrückt", sagt Lieser.
Die Absolventen duzen sich
Dort knüpfen künftige Spitzenbeamte und Unternehmenschefs bereits fleißig am "reseau", dem Netzwerk. Später duzen sich alle ENA-Absolventen - auch wenn sie sich nie zuvor begegnet sind.
Wer einen Vertrauten in einem Ministerium sucht, in dem er noch niemanden kennt, kann zum "annuaire" greifen, in dem sämtliche 5500 Enarchen mit Abschlussjahr, Werdegang, aktueller Position und Kontaktdaten verzeichnet sind. Wichtiges Bindemittel für die spätere Kontaktpflege ist Sport - Pflichtfach an der Elite-Uni. Katrin Moosbrugger kommt gerade vom Kanufahren mit anderen Enarchen in Venedig zurück.
"Die ENA spielt eine ähnliche Netzwerk-Rolle wie die deutschen Burschenschaften - nur wesentlich effizienter", meint Frankreich-Experte Uterwedde. An die rüden Bräuche schlagender Verbindungen erinnern auch die Initiationsrituale mancher "Grandes Écoles". An einigen Elite-Unis müssen die Neuen als Frauen verkleidet auf die Straße oder werden in eiskaltes Wasser getaucht. Aufgeschreckt von Protesten weiblicher Studenten, versucht die Regierung, die "bizutages" genannten Übungen einzuschränken.
Auch Enarchen können irren
Die Diskussion um die Bizutages zeigt: Die Kaderschmieden sind längst nicht mehr sakrosankt. Premierminister Jean-Pierre Raffarin etwa betont gern, "nur" einen normalen Uni-Abschluss zu besitzen. Von Enarchen mitverantwortete "corporate scandals", etwa um Crédit Lyonnais, die den Steuerzahler Milliarden kosteten, nagen am Nimbus der Elite, die die visionäre Strategie im Zweifel den Mühen des operativen Geschäfts vorzieht.
Beispiel Vivendi: Die Umwandlung des drögen Versorgers zum schicken Medienkonzern war ganz nach dem Geschmack des Enarchen Jean-Marie Messier - und scheiterte grandios. Auch der von ENA-Absolventen gern praktizierte Stil, Unternehmen wie Behörden zu leiten, passt kaum ins Shareholder-Value-Zeitalter.
Den neuen Anforderungen will sich Direktor Durrleman stellen. "Funktionäre müssen heute mehr wie Manager denken. Wir wollen, dass sie beide Seiten kennen lernen." Im Übrigen sei "die Kritik an der ENA so alt wie die ENA selbst. Unserer Attraktivität schadet das nicht." Die steigenden Bewerberzahlen geben ihm Recht.