Knastvisite Jurastudenten hinter Gittern

Kriminologen der Uni Bochum sind überzeugt: Angehende Richter und Anwälte sollen den Strafvollzug in der Praxis kennen lernen und ihre Nase nicht immer nur in Schönfelders Gesetzessammlung stecken. Darum gehen sie ins Gefängnis. Und stellen fest, dass Cola und Playstation für Häftlinge wichtiger sind als die Strafrechtsreform.
Von Alexandra Straush

Am Samstagmittag bringt ein Beamter das Essen für den Rest des Tages. Danach schließt sich die Zellentür für die nächsten 18 Stunden. So lange ist Bernd S. auf seinen acht Quadratmetern mit sich alleine. Er hat nur die Geräusche der Mitgefangenen und den Fernseher.

Acht Jahre lang muss sich der gelernte Maurer mit dieser Situation arrangieren, er sitzt in der Justizvollzugsanstalt Bochum wegen eines Raubüberfalls. "Auffe Hütte" hat er es sich, so gut es geht, gemütlich gemacht: Mit einer geblümten Plastikdecke auf dem Tisch, einem Poster an der Tür. Transparente Vorhänge mit kleinen hellblauen Karos verschönern das Fenster unter der Decke.

Wie es sich anfühlt, eingesperrt zu sein, lässt sich nicht aus Büchern lernen. Man muss es erleben. Studenten der Ruhr-Universität Bochum haben seit diesem Semester die Gelegenheit dazu. In der kriminologischen Haftgruppe besuchen sie die Justizvollzugsanstalt. "Juristen sollen ihr späteres Berufsfeld kennen lernen, aber von einer anderen Seite, nämlich von der Seite der Betroffenen", erklärt Thomas Feltes. Der Professor vom Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft hat die Veranstaltung ins Leben gerufen.

Lambswoolpulli trifft Dreitagebart

In einem Gruppenraum der JVA prallen jeden Donnerstagabend Klischees aufeinander: Lambswool-Pullover und Perlenohrstecker treffen auf Jogginganzug und Dreitagebart. Man beschnuppert einander, tauscht einen freundlichen Händedruck. Nach ein paar Treffen sind Häftlinge und Besucher sich schon näher gekommen. Manche Studenten werden direkt mit Beschlag belegt, das Mitteilungsbedürfnis der Gefangenen ist groß.

Auch Bernd S. ist mit von der Partie. Dabei sagt er von sich, er sei froh, wenn er auf der Zelle seine Ruhe habe. "Ich habe aber schon den Eindruck, dass Bernd sich freut, wenn wir kommen", sagt Jurastudent Thomas, der sich häufiger mit ihm unterhält.

Die Haftgruppe ist für die Gefangenen ein Freizeitangebot wie Schachspielen oder das Bundesliga-Top-Spiel, das samstags in der Gefängniskapelle gezeigt wird. Gleichzeitig ist sie ein Privileg, denn nicht jeder darf teilnehmen. Nur wer als ungefährlich und umgänglich gilt, kommt für die Gesprächsrunde ohne Sicherheitsbeamte in Frage. Sexualstraftäter scheiden von vornherein aus, ansonsten ist fast jedes Delikt von der Wirtschaftskriminalität bis zum Mord vertreten.

Besondere Attraktion: Frauen

Die Gründe, warum die Häftlinge teilnehmen, sind unterschiedlich. Abwechslung und Ansprache spielen eine Rolle. "Ich komme, weil es Cola und Kekse gibt", sagt Ralf H., der in Bochum zwei Jahre wegen Nötigung sitzt. Im Reinigungsdienst verdient er nur 60 Euro monatlich, das reicht gerade mal für die Zigaretten. Die kleinen Extras auf der Speisekarte kann er sich nicht leisten, denn dafür müssen die Häftlinge selbst bezahlen.

Eine weitere Attraktion sind zweifellos die Frauen. Die bekommen die 780 inhaftierten Männer der JVA sonst nur selten zu Gesicht. Bei Bernd S. regt das Überangebot an jungen Damen die Phantasie an: Mal zusammen Sport zu machen, statt immer nur zu reden, das fände er klasse.

Die Lehrveranstaltung jedoch sieht Referate, Gruppendiskussionen und Gespräche unter vier Augen vor. Schließlich hat sie auch einen wissenschaftlichen Anspruch. "Das kriminologische Interesse liegt darin, Lebensgeschichten zu hören", sagt Thomas Feltes. "Wie ist jemand straffällig geworden, wie entwickelt sich die Biografie?"

An diese Informationen im Gespräch heranzukommen ist nicht so einfach. Lieber erzählen die Häftlinge spannende Geschichten: Wie Bernd S. auf der Flucht vor der Polizei war. Dass Ralf H. gerade an seiner Biografie schreibt, aber leider Ärger mit seinem Verleger hat.

"Das liegt in meinen Genen"

Auf die Frage, warum sie straffällig wurden, haben viele Gefangene eine sehr einfache Antwort: "Das liegt in meinen Genen." Immer wieder schimmert in den Gesprächen aber auch ein Stück menschliche Problematik durch. "Bernd gibt zu, dass er das mit der Gewalt nicht im Griff hat", sagt Thomas.

Die angehenden Staatsanwälte, Strafverteidiger und Richter stellen fest, dass nicht alles im Strafvollzug so ist, wie sie es sich vorgestellt haben. "In der Uni lernen wir, Freiheitsentzug ist die schlimmste Strafe", wundert sich Jurastudentin Simona. "Aber Geldmangel scheint den Häftlingen viel mehr zu schaffen zu machen." Ralf H. hat dafür eine einfache Erklärung: "Der Knast ist der Spiegel der Gesellschaft. Wer satt ist, der beschwert sich nicht."

Die meisten Häftlinge beklagen sich gern, zum Beispiel über Annehmlichkeiten, die ihnen verweigert werden, wie eine Playstation oder ein Haustier. Paradoxerweise wird aber auch darüber gemeckert, dass der Strafvollzug viel zu lasch sei. "Die wollen uns zeigen, dass sie harte Kerle sind, denen der Vollzug nichts anhaben kann", glaubt Thomas. "Aber so einfach stecken sie das sicher nicht weg."

Wissenschaftliche Beobachter und freundschaftliche Blitzableiter: Die Studenten der Bochumer Haftgruppe spielen eine Doppelrolle. Sie sollen die Situation der Gefangenen gut kennen lernen, ihnen aber nicht zu nahe kommen. Schließlich sind sie keine Profis, die gelernt haben, sich abzugrenzen.

Ein Stück Anonymität bleibt gewahrt

Abhängigkeiten zwischen Betreuern und Häftlingen kommen generell immer mal wieder vor, sagt Professor Feltes, auch wenn man sie in Bochum noch nicht erlebt hat: "Dass sich zum Beispiel die Betreuerin in den Knacki verliebt oder umgekehrt. Oder dass die Anhänglichkeit des Häftlings den Betreuer unter Druck setzt."

Vor diesem Problem soll die Studenten die Gruppe schützen. Und der regelmäßige Wechsel der Gesprächspartner. Vorsichtshalber kennen sich Häftlinge und Besucher nur beim Vornamen, so bleibt ein Stück Anonymität gewahrt. "Auch meine Adresse würde ich nie verraten", wehrt Simona ab. Schließlich ist es in einer anderen Haftanstalt schon vorgekommen, dass ein Gefangener, der zu einem Betreuer brieflich Kontakt gehalten hatte, nach der Entlassung alkoholisiert vor dessen Tür stand.

Keine Frage, Berührungsängste bleiben, die langen Strafregister der JVA-Insassen lassen sich nicht wegdiskutieren. Die wenigsten sitzen zum ersten Mal. Ob die Studenten die Häftlinge auch privat besuchen würden? Thomas kommt ins Grübeln: "Ich bin mir gar nicht sicher, ob die Gefangenen das wollen."

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