Kopftuchstreit in der Türkei Allahs Wille gegen Atatürks Gebot
Die junge Frau mit dem Kopftuch kennt den Weg genau. Mit hängenden Schultern eilt Kübra Kutulay über den Großen Bazar, sie schiebt sich durch das Drehkreuz am Eingang zur Istanbul-Universität, wortlos reicht sie den Wachmännern an der Pforte ihren Studentenausweis. Dann verschwindet Kübra in einem Metallcontainer. Als sie nach wenigen Minuten wieder hervorkommt, trägt sie kein Kopftuch - aber eine schwarze Langhaarperücke. "Irgendwie muss ich doch meine Haare bedecken", sagt die junge Muslimin. Studentinnen mit Kopftuch duldet der türkische Staat nicht. Noch nicht.
Am Samstag hat das türkische Parlament auf Betreiben der konservativ-islamischen AKP mit großer Mehrheit für die Aufhebung des Kopftuchverbots gestimmt. "Ein glorreicher Moment", sagt Kübra, "ich habe jubiliert." Noch diese Woche will Staatspräsident Abudllah Gül (AKP) die Verfassungsänderung absegnen. Doch die Proteste gegen die Pläne der Regierung in der Türkei sind gewaltig. Hunderttausende gehen seit Tagen im ganzen Land auf die Straße. "Wir sind die Soldaten Atatürks", skandieren die Demonstranten, und: "Istanbul ist nicht Teheran."
Beide Seiten beschwören die Freiheit
Kein Streit enthüllt in der Türkei so sehr, was in den Köpfen vor sich geht, wie dieser um das Recht von Studentinnen, ihren Kopf zu verhüllen. Für die "säkulare" Staatselite verkörpert das Kopftuch einen Lebensstil, der mit Laizismus, also der Trennung von Staat und Religion, unvereinbar ist. Für zwei Drittel der Türken aber, das zeigen Umfragen, ist das Tragen des Kopftuchs eine religiöse Pflicht und ein bürgerliches Recht.
Die kemalistische Machtelite jedoch pocht unverändert darauf, die Gesellschaft nach ihrem Willen zu gestalten. Ihr politischer Arm, die CHP, wurde bei der Parlamentswahl im Juli brutal abgestraft, auf 20 Prozent schrumpfte ihr Stimmanteil - eine schallende Ohrfeige für die Erben Atatürks.
Oppositionschef Deniz Baykal nutzt den Streit um das Kopftuchverbot deshalb so gut aus, wie es nur geht. Er schürt ganz bewusst die Angst vor einer schleichenden Islamisierung, weil ihm und seiner kränkelnden Partei sonst nicht viel einfällt. Die alte Staatselite verteidigt ihre Position mit einer Politik der Einschüchterung. Sie beschwört den Kampf um die Grundfeste der Republik. Falle das Kopftuchverbot, warnen sie, drohe der Gottesstaat.
Iranische Verhältnisse in der Türkei?
"Das ist doch Blödsinn!", sagt Nükhet Sirman, Soziologie-Professorin an der renommierten Bosporus-Universität in Istanbul. Der Laizismus stehe in dieser Auseinandersetzung nicht auf dem Spiel. "Für die große Mehrheit der Türken ist die Trennung von Staat und Religion selbstverständlich", so Sirman.
Das weiß auch der Ministerpräsident. Und deshalb spricht Recep Tayyip Erdogan in diesen Tagen oft von "Freiheit" und "Selbstbestimmung", um den Verdacht zu entkräften, seine AKP wolle das Land islamisieren. Niemand dürfe, aus welchen Gründen auch immer, vom "Recht auf Bildung" ausgeschlossen werden, sagt Erdogan.
Ein jähes Ende findet die AKP-Freiheitsrhetorik jedoch, wenn es um Meinungsfreiheit oder die Religionsfreiheit von Nichtmuslimen geht. Für Künstler, kritische Journalisten und Wissenschaftler ist die Türkei auch nach fünf Jahren AKP-Regierung ein hartes Pflaster. Um die Lockerung des Kopftuchverbots im Parlament durchzusetzen, hat sich Erdogans AKP mit der ultranationalistischen MHP verbrüdert.
Die Bedingung der Rechten: Der skandalöse Paragraf 301, der die "Verunglimpfung des Türkentums" unter Strafe stellt, bleibt unangetastet. Warum, fragen Kritiker zu Recht, hält Erdogan an "301" fest, wenn ihm so viel an Rechtsstaatlichkeit gelegen ist? Und warum findet sich in der Verfassungsänderung keine Klausel, die jene schützt, die kein Kopftuch tragen?
Liberale streiten gemeinsam mit Konservativen
Erdogan ist eine Antwort bislang schuldig geblieben. "Der Kopftuchstreich ist der Gipfel der Heuchelei", sagt Dursun Tüyloglu, Politikdozent an der liberalen Istanbuler Bilgi-Universität. "Beide Lager berufen sich in dem Konflikt auf hehre Werte - auf Freiheit, Demokratie, Laizismus. Trauen kann man keinem der Beteiligten."
Das Tuch ist zum Symbol des Machtkampfs zwischen der alten kemalistischen Staatselite und den Aufsteigern einer neuen muslimisch-anatolischen Mittelschicht geworden. Anhänger und Gegner des Verbots sind gleichermaßen besessen von dem Problem.
Doch sind sie sich in einem einig: Der Staat hat das Recht, Kleiderordnungen zu erlassen, zu erlauben oder zu verbieten. In seitenverkehrter Form ähneln sich die Positionen: Dort muss das Kopftuch getragen werden, hier darf es nicht. Freiheit sieht anders aus.
Kopftuch? Verrat an der Wissenschaft!
Allen voran die Universitäten sind gespalten. In einem gemeinsamen Aufruf sprachen sich 1300 türkische Professoren für eine Aufhebung des Verbots auf. "Die Zeit ist gekommen, den Studentinnen ihre Freiheit zurückzugeben", schrieben sie. Viele Kollegen hingegen warnen vor "dem Siegeszug der Islamisten".
Vor allem an der Universität Istanbul ist die Aufregung groß. An der ältesten Hochschule des Landes, die 1933 von Präsident Kemal Atatürk reformiert wurde, fühlt man sich dem kemalistischen Erbe besonders verpflichtet. "Das Kopftuch ist ein Zeichen für den Dogmatismus der Religion", sagt Professor Celal Sengör. Verhüllte Studentinnen begingen Verrat an der Wissenschaft und hätten deshalb kein Recht auf den Zutritt zu Hochschulen. "Wenn es notwendig ist, dann schließen wir die Uni, bis die Regierung zur Vernunft kommt", sagt Sengör. Dutzende Kollegen haben bereits angekündigt, Studentinnen mit Kopftuch nicht zu unterrichten.
Auch unter den Studenten sind die Gräben tiefer als je zuvor. Gegenüber stehen sich allerdings nicht "Säkularisten" und "Fundamentalisten". Im Gegenteil: Es scheint, als seien die Vorzeichen seitenverkehrt - die Erlaubnis, den Kopf zu bedecken, gilt als Nachweis von Liberalität, das Verbot als Einschränkung der Freiheit.
"Jeder misstraut in diesem Land jedem"
"Wir Frauen wollen tragen, was uns gefällt", sagt Özlem, Literaturstudentin an der Bilgi University. Ihre Kommilitonin Ella pflichtet ihr bei: "Der Staat hat uns keine Kleidervorschriften zu machen." Weder Ella noch Özlem tragen Kopftuch. "Wir sind nicht religiös", beteuern sie. "Aber wir respektieren den Glauben anderer."
Kübra, die an der Universität Istanbul Medizin studiert, sagt, bisher hätten sich junge Musliminnen entscheiden müssen: entweder Schleier oder Studium, Kopftuch oder Karriere. "Gut, dass das bald vorbei ist." Das Ende des Kopftuchbanns sei der erste Schritt zu einer gerechteren Gesellschaft.
"Es ist der erste Schritt in Richtung Theokratie", fürchtet hingegen Ezgi, Jurastudentin aus Ankara. Und der Istanbuler Schauspieler Ozan Ayhan: "Eine Islamisierungswelle schwappt durch das Land. Frauen ohne Kopftuch werden es künftig sehr schwer haben."
Ayhans Befürchtung teilen viele. "Jeder misstraut in diesem Land jedem", schreibt die liberale Istanbuler Tageszeitung "Radikal". Zum Beginn des Sommersemesters am kommenden Montag werden heftige Auseinandersetzungen an den Universitäten erwartet.
"Das Kopftuch ist zu einer Ikone geworden", sagt Soziologin Nükhet Sirman. "Und die Schlacht darum ist längst noch nicht vorbei."