Lateinzwang an Unis Möge ihnen der Himmel auf den Kopf fallen
Tum vero clarissimis viris interfectis lumina civitatis extincta sunt.
Dieser Satz aus Ciceros dritter Rede gegen Catilina lässt die Köpfe der Studenten rauchen. "David, wie hast Du lumina civitatis übersetzt?" - "Als genitivus possesivus." Kaffee wird zwischen Stowasser und Lateingrammatik gereicht. "Steckt in dem Satz ein ablativus absolutus?" - "Das ist doch ein vom Hauptsatz gelöster ablativ im Gegensatz zum participium coniunctum."
Jedes einzelne Satzglied wird penibel grammatisch bestimmt, bis endlich die Übersetzung gelingt: "Damals erloschen nach der Ermordung der bedeutendsten Männer vollends die Leuchten des Staates."
Ein Montagmorgen an der privaten Benedict School in Münster: Während ihre Kommilitonen verreist sind oder im Praktikum fürs Leben lernen, pauken zehn Studenten eine Sprache, die seit Jahrhunderten tot ist. Und das in den Semesterferien - seit acht Wochen. Wie viele tausend Leidensgenossen brauchen sie das Latinum für den Magister oder das Staatsexamen in Germanistik, Geschichte, Anglistik, Romanistik, Philosophie oder einem der vielen anderen Fächer, die Latein voraussetzen.
Noch immer liegen die Lateinhürden an deutschen Unis sehr hoch, allen voran Traditionsuniversitäten wie Münster und Heidelberg. Eine Liste über die altsprachlichen Voraussetzungen an deutschen Unis umfasst allein 62 Seiten.
"Das ist doch Schwachsinn"
Rike Wegmann braucht ihr Latinum für Philosophie und Romanistik. "Das ist doch Schwachsinn", schimpft sie über die Plackerei, "ich leite mir das Lateinische vom Spanischen ab. Es geht eben auch andersherum." Auch Sonya McLaren sieht nicht ein, warum sie für ihr Anglistikstudium Gerundium und Ablativ lernen muss: "Ich bin im Hauptstudium und habe nie Latein gebraucht. Die lateinstämmigen Wörter habe ich einfach auswendig gelernt."
Sarah Pöpping hält Lateinkenntnisse für ihr Geschichtsstudium zwar für sinnvoll. "Aber die strengen Latinumsanforderungen sind übertrieben." Vier Semester hat sie an der Uni in Lateinkursen vergeudet - und das Latinum trotzdem nicht geschafft. Nun hat sie 850 Euro berappt und nimmt am Intensivkurs an der Benedict School teil. Latinum in neun Wochen. Das heißt jeden Tag zehn Stunden Latein. Morgens Unterricht, nachmittags übersetzen, abends lernen. Jeden Freitag gibt es eine Probeklausur.
"Jostein Gaarder, der Autor von 'Sofies Welt', hätte in Deutschland nicht Philosophie studieren dürfen, weil seine Lateinkenntnisse nicht ausreichen", ärgert sich Peter Heigl, Privatdozent und Mitglied im Gesamtverband Moderner Fremdsprachen. Er sieht deutsche Studenten durch die "schwachsinnigen" Lateinanforderungen im Nachteil. Ein Blick auf die Nachbarn zeige, dass das Latinum nicht mehr zeitgemäß ist: "Die meisten europäischen Länder kennen unser aufwendiges Latinum überhaupt nicht. Sie begnügen sich mit einer kurzen Einführung."
Eine EU-Richtlinie zählt das Schulfach Latein nicht einmal zu den Fremdsprachen. Die fossile Sprache läuft dort unter "Sonstiges". Die innerdeutschen Anforderungen an das Latinum schwanken stark zwischen den einzelnen Bundesländern. Mit der Kampfparole "Latinum in latrinam" (Latein ins Klo) konnten Studenten sich nie durchsetzen. Ihnen bleibt keine Wahl: Entweder sind sie nach zeitraubenden Spezialkursen erfolgreich mit dem Latein am Ende - oder sie müssen das Studium hinschmeißen.
Doch während sich die Studenten in einer globalisierten Welt behaupten müssen, haben sich die Argumente der Altphilologen seit Jahrzehnten nicht verändert. Latein sei wichtig als Grundlage für alle romanischen Sprachen, als grammatische Grundausbildung, als Schlüssel zur abendländischen Kultur und als eine Art "Mucki-Bude" fürs Gehirn.
All diese Fähigkeiten könnten die Schüler und Studenten in anderen Fächern "nicht im gleichen Umfang" erlernen wie im Lateinunterricht, sagt Hartmut Loos, Vorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes. Dass moderne Fremdsprachen, allen voran Englisch, aber auch Französisch, Spanisch, Russisch oder Chinesisch in der heutigen Zeit viel wichtiger sind, leugnet Loos nicht. Er plädiert für ein "Miteinander von alten und neuen Sprachen".
650.000 Schüler lernen Latein
Ob diese Rechnung aufgeht, bezweifeln Lateingegner. Die Hälfte der deutschen Abiturienten mit Latinum hat in ihrer Schulzeit außer Englisch keine weitere lebendige Fremdsprache gelernt, berichtet der Gesamtverband Moderner Fremdsprachen. Zudem gebe es bislang keinen Beleg für die These von Latein als Lernhilfe für andere Sprachen.
Viele Eltern lassen ihre Kinder nur deshalb Latein bimsen, weil die es später fürs Studium brauchen könnten - und blockieren damit oft den Weg für eine zweite moderne Fremdsprache. 650.000 Schüler lernen derzeit in Deutschland die fossile Sprache. Und liefern den Unis damit das Hauptargument, ihre Latein-Anforderungen nicht zu senken. Dieser ewige Kreislauf lässt die Altphilologie überleben.
Peter Heigl plädiert stattdessen für eine kurze Einführung in Latein und Griechisch, das "Classicum": "Wer sich den Luxus sprachlicher und kultureller Allgemeinbildung gönnen will, tut besser daran - lieber beide klassische Sprachen in bescheidenem Maße kennenlernen als nur eine davon in extenso." In Frankreich und Italien habe sich diese ein- bis zweijährige Einführung in der Schule bewährt. "Nicht als Voraussetzung, sondern als freiwillige Ergänzung zu modernen Fremdsprachen", erläutert Heigl.
Altphilologe Hartmut Loos will von diesem Modell nichts wissen: "Ein solcher Vorschlag ist wohl eher ein Feigenblattargument von denjenigen, die die alten Sprachen aus den Schulen verdrängen wollen."