Lernmarathon Meine 24-Stunden-Schicht in der Bibliothek
"Größenwahnsinnig", "total bekloppt" und "übergeschnappt" - genau diese Worte bekam ich von meinen Freunden zu hören, als ich ihnen von meinem Plan erzählte: Ich möchte 24 Stunden an dem Ort verbringen, von dem ich gewöhnlich schon nach zwei Stunden entnervt fliehe.
Ich mache einen Lernmarathon in der Freiburger Unibibliothek. Größenwahnsinnig? Nein, eher verzweifelt. Total bekloppt, übergeschnappt? Je nun.
Ich hatte ja keine Ahnung.
Ich stehe kurz vor den Prüfungen, es ist mein erstes Semester. Binnen 24 Stunden will ich versuchen, mich auf die kommenden Klausuren vorzubereiten: "Methoden und Statistik" und "Einführung in die Politikwissenschaft" stehen an, dazu eine schwierige Türkisch-Prüfung. Ich habe mir mehrere Literaturlisten gemacht, Übungsblätter kopiert, eine Lernkartei für meine Vokabeln gebastelt und mich im Supermarkt mit Unmengen an Essen eingedeckt.
Auf meinen ärgsten Feind konnte ich mich allerdings nicht vorbereiten: die Müdigkeit.
12 Uhr - Angriff auf den Blätterberg
Als ich um kurz vor 12 Uhr meine Jacke und meinen Rucksack in einen Spind im Eingangsbereich der Universitätsbibliothek (UB) stopfe, versuche ich zu verdrängen, dass ich sie erst am nächsten Mittag wieder entgegennehmen werde. Wer seinen Spindschlüssel länger als 24 Stunden behält, muss eine Gebühr bezahlen. Ob hier überhaupt schon mal jemand solange gelernt hat? Voll bepackt balanciere ich Ordner, Vokabelkärtchen und Literaturlisten zu einem der Arbeitsplätze. Beim Anblick des Blätterbergs, der sich da vor mir auftürmt, weiß ich allerdings nicht wirklich, wo ich anfangen soll.
Meist schiebe ich unliebsame Aufgaben richtig weit weg, lerne stattdessen die Texte, die ich interessant finde, und lerne die Vokabeln, die mir leichtfallen. Genau so hatte ich es auch in den vergangenen Wochen gemacht. Mit dem Ergebnis, dass im Blätterberg jetzt nur noch Unliebsames auf mich wartet.
Meine Banknachbarin, sie trägt einen Pullover in Knallpink, ist geradezu mechanisch in ihre Arbeit vertieft. Mit gekrümmtem Rücken, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen und die Stirn in Falten gelegt, sitzt sie regungslos vor ihrem MacBook. Nur die Hände sausen blitzschnell im Zehn-Finger-System über die Tastatur. Klackklackklackklack.
"Wenn du eins an der Uni lernst, dann ist es, schnell zu schreiben", hat mein Politiklehrer früher zu mir gesagt. Ich ziehe erst mal das Lesen dem Schreiben vor und übe mich auch in Mechanik: Meine rechte Hand greift einfach das oberste Buch vom Stapel. "Innenpolitik und Politische Theorie". Na toll.
- Konsumiert in den ersten sechs Stunden: zwei Blaubeer-Muffins, eine Banane, die erste Flasche Wasser
18 Uhr - Eine Lawine Ümitsizlik
"Was geht heute Abend?", fragt mein Kommilitone Matze per SMS. Als ich ihm meinen persönlichen 24-Stunden-Lernmarathon in der UB erkläre, kommt nur zurück: "Das ist ja krass. Du gehst echt ab!"
Ich nehme mittlerweile tatsächlich Fahrt auf. Binnen einer Stunde prügele ich mir ein paar Dutzend Türkisch-Vokalen ins Gehirn und kann danach sogar "Ali ist klüger als Orhan" und "Ayes Schwester liest ein Buch im Garten" fehlerfrei übersetzen. Mein Platz gleicht einem Gletschertal nach einem Lawinenunglück: am Rand stehen die Bücherberge, in der Mitte sitze ich, die Vokabelkärtchen haben alles verschüttet. Ümitsizlik! Das heißt Verzweiflung auf Türkisch.
Die Freiburger Uni-Bibliothek ist für die nächsten Jahre in eine ehemalige Konzerthalle gezogen, weil das Original renoviert wird. Nun stehen die Bücherregale auf dem Parkett, die Zeitschriften auf der Bühne und die Lernplätze ziehen sich die Empore hoch. Die Cafeteria versteckt sich unter dem früheren Backstage-Bereich. Ich sitze ganz oben auf der Empore an einer langen Fensterfront.
Eben war doch noch jeder Platz besetzt. Dass einer nach dem anderen seine Sachen gepackt hat und gegangen ist, bemerke ich erst, als ich mich um kurz vor 22 Uhr umschaue - zwei Drittel der Plätze sind jetzt leer. Auch meine Banknachbarin mit dem Pink-Pulli ist weg. Jetzt tobt ein Gewitter über der UB und schlägt Regentropfen gegen die Fenster. Ich war so vertieft in Ümitsizlik, dass ich gar nicht sagen kann, wann das Klackklack durch das Plockplock des Regens abgelöst wurde.
- Konsumiert in vier Stunden: eine Brezel, zwei Schokoriegel, noch mehr Wasser
22 Uhr - Karos auf dem Unterarm, Döner auf der Heizung
Schon lustig, wie jeder versucht, sich selbst vom Lernen abzuhalten. Mein neuer Nachbar zum Beispiel schiebt das Etikett seiner Wasserflasche wie in Trance von links nach rechts, zusammen und wieder auseinander. So verbringt er immerhin einige Minuten - alle paar Minuten.
Eine andere Studentin inspiziert intensiv ihren neongelben Textmarker, als wolle sie einen geheimen Code darauf entschlüsseln. Der nächste eifrige Student, ein paar Reihen weiter unten, wirft seinen Radiergummi mit der einen Hand hoch und fängt ihn mit der anderen auf. Immer wieder, immer ein Stückchen höher, bis sein Spielzeug schließlich die Studentin neben ihm trifft.
Ich habe zwischendurch ein Schachbrettmuster auf meinen Collegeblock gemalt. Und entdecke später, dass sich ein Abdruck der kleinen Karos auf meinen Unterarm geschlichen hat. War ich eingenickt? Bereits im dritten Anlauf lese ich eine Seite aus "Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen" und weiß doch nicht mehr, was da gerade stand. Jedes Mal, wenn ich den Inhalt der Seite zusammenfassen will, ist alles wieder weg. Und ich fange noch mal an.
Immerhin erbarmt sich ein Freund und bringt mir kurz vor Mitternacht einen Döner. Die meisten Studenten packen ihre Sachen und verschwinden auf eine Party oder ins Bett. Aber ich sitze nachts um Mitternacht auf einem Heizkörper zwischen Schließfächern und schaufle Krautsalat, Fleisch, Fladenbrot in mich hinein.
Zu uns gesellt sich ein aufgekratzter Endzwanziger mit Glatze. Er brütet über seiner Diplomarbeit in Philosophie und Psychologie, es geht irgendwie um die friedliche Revolution, er ist dankbar über jede Minute menschlichen Kontakt. Diese Woche hat er schon vier Tage in der UB übernachtet, in zwei Wochen muss er die Arbeit abgeben.
- Konsumiert von 22 bis 2 Uhr: einen Döner mit Knoblauchsoße, wieder eine Flasche Wasser, jetzt auch Cola
2 Uhr - Ich steck' sie alle in die Tasche!
Die letzte Straßenbahn ist Richtung Innenstadt gefahren, wir sind nur noch zu viert. Mit dem aufgekratzten Diplom-Typ, einem Studenten mit dicken Steuerrechtsbüchern und einem Mediziner, der Anatomie paukt, läuft eine Art Wettstreit: Wer hält am längsten durch?
Ich versuche, ein konzentriertes Gesicht zu machen, kann aber eigentlich nicht mehr. Mein Durchhaltewille ist dem reinen, klaren Wunsch nach meinem Bett gewichen. "Ich geh jetzt schlafen, aber bleib du tapfer!", schreibt ein Freund per SMS. Nicht nur physisch baue ich ab, auch die Grammatik schwächelt. Ich schreibe "währe" statt "wäre", "Kontrastion" statt "Kontrastierung". Mehrmals versenke ich Manuskriptseiten im Müll.
Auf Partys ist es immer so: Ich werde irgendwann müde und will heim, aber die Stimmung ist super, also bleibe ich. Irgendwann ist die Müdigkeit verflogen, und ich tanze bis zum Sonnenaufgang. Eigentlich müsste ich ihn doch auch hier bald überwunden haben, den toten Punkt?
Zwei Stunden später: Die UB gehört jetzt mir! Die drei Kontrahenten haben allesamt aufgegeben. Ich dagegen bin wieder putzmunter und sitze tatsächlich allein in einer komplett ausgeleuchteten riesigen Bibliothek. Zum ersten Mal seit 14 Stunden richtig still. Kein Papierrascheln, kein Husten, kein Stühlerücken, nur mein Laptop schnurrt leise.
Bis auf einmal eine Sirene aufheult.
- Konsumbilanz: eine halbe Packung Studentenfutter, Wasser reichlich
5.30 Uhr: Angriff der Außerirdischen
Zwei Marsmännchen? Astronauten? Superagenten mit Jetpacks? Mit lautem Heulen kämpfen sich zwei Typen durch die Regalreihen. Was aus der Entfernung wie die Besatzung eines frisch gelandeten Raumschiffes aussieht, sind zwei Putzmänner.
Mit einer Staubsauger-Konstruktion auf dem Rücken starten sie zur frühmorgendlichen Grundreinigung. Draußen ist es immer noch stockdunkel, in der UB dank unzähligen Neonröhren trotzdem taghell.
Gegen sechs Uhr haben die Saugermänner sich bis zu meiner Empore hochgearbeitet. Als sie zwischen den Stuhlbeinen auch zwei Beine in schwarzen Stiefeln und Strumpfhose sehen, schauen sie erschrocken hoch und gehen schnell weiter. Das genuschelte "Tschuldigung" war das erste Wort seit Stunden.
- Konsumiert: die andere Studentenfutter-Hälfte, Wasser
8 Uhr - Geh nach Hause, fleht mein Spiegelbild
Eigentlich trinke ich keinen Kaffee. Vielleicht sollte ich jetzt damit anfangen? Ich befinde mich in einer Art Wachkoma. Meine Augen sind offen, trotzdem habe ich das Gefühl zu schlafen.
Die ersten Studenten packen bereits ihre Unterlagen auf die Schreibtische, darunter meine Sitznachbarin von gestern. Sie lernt wohl immer an der gleichen Stelle, trägt jetzt einen dunkelblauen Rollkragenpulli, keinen pinkfarbenen. Frisch geschminkt und einparfümiert schaut sie mich mit großen Augen an.
Als ich zum x-ten Mal meine Wasserflasche auffülle, sehe ich im Spiegel den Grund: Der Ansatz meines Ponys steht nach oben, ich habe Augenringe, als hätte ich die ganze Nacht durchgefeiert. Mein Blick ist glasig, meine Wimperntusche über das halbe Gesicht verteilt. Heute Nacht war ich wohl für die extraterrestrische Putzkolonne ein größerer Schock als sie für mich. Mein Spiegelbild will mir sagen: Geh nach Hause!
Aufgeben, so kurz vor dem Ziel? Kommt gar nicht in Frage. In den letzten beiden Stunden versuche ich, den Stoff von 22 Stunden zu wiederholen. Gut zwei Drittel sind tatsächlich hängen geblieben. Sogar "Ayes Schwester hat einen schönen Garten" kann ich nach wenigen Minuten scharfen Überlegens aufs Papier bringen.
Kurz vor zwölf Uhr, das Duell "Ich gegen UB" neigt sich dem Ende, sitze ich abgekämpft in der Cafeteria und starre monoton auf die Automaten.
- Ich konsumiere: eine Flasche O-Saft, dazu einen Apfel und ein Schinkenbrötchen
Aber keinen Kaffee. Ich will doch jetzt schlafen.