Lord Dahrendorf über Chancengleichheit "Eine Bildungsrepublik kann am Mittagessen scheitern"

Für "Aufstieg durch Bildung" setzt sich Lord Ralf Dahrendorf seit einem halben Jahrhundert ein. Im SPIEGEL-Interview spricht der deutsch-britische Soziologe und Politiker über die Bildungsrepublik, Gefummel an der Schulpolitik und zu niedrige Steuern für Akademiker.

SPIEGEL: Lord Dahrendorf, Sie haben gleich mehrere Staatsbürgerschaften. Sie sind Bürger einer Bundesrepublik und eines Vereinigten Königreichs. Fühlen Sie sich denn auch als Bürger einer Bildungsrepublik?

Ralf Dahrendorf: Ach, Bildungsrepublik. Das sagen sie doch mittlerweile alle in Europa. Das könnte man in derselben Form auch in London oder Paris hören.

Soziologe Dahrendorf: "Was ist mit dem Rest?"

Soziologe Dahrendorf: "Was ist mit dem Rest?"

Foto: Stefan Enders

SPIEGEL: Das heißt: Wenn die Bundeskanzlerin die Bildungsrepublik ausruft, ist das nur Wortgeklingel?

Dahrendorf: Nein, das heißt: Es ist vielen heute klar, dass Bildung wichtig ist. Für eine funktionierende Wirtschaft, als Kraft der Integration und auch als Quelle der Lebensbefriedigung für viele Menschen. Aber das wissen inzwischen alle in Europa.

SPIEGEL: In Deutschland hat die Bundeskanzlerin für diesen Mittwoch sogar zu einem Bildungsgipfel geladen.

Dahrendorf: Wahrscheinlich haben die Meinungsforscher ihr gesagt, dass das populär ist.

SPIEGEL: Wären Sie nicht gerne dabei?

Dahrendorf: Nein, ich hab' da nichts zu suchen.

SPIEGEL: Aber der Gipfel steht unter dem Motto "Aufstieg durch Bildung". Das klingt doch nach dem, was Sie seit einem halben Jahrhundert fordern: Bildungschancen von der sozialen Herkunft zu entkoppeln.

Dahrendorf: Ja, aber mein Ansatz von damals ist nicht mehr aktuell. Ich weiß zwar, dass die OECD und viele andere immer wollen, dass wir mehr Akademiker ausbilden. Doch das wichtigste Problem ist das nicht.

SPIEGEL: Wie bitte? Alle Welt klagt, dass wir zu wenige Akademiker ausbilden und nach wie vor nicht alle Kinder dieselben Chancen auf ein Studium haben, und ausgerechnet Sie sagen: alles halb so wild?

Dahrendorf: Seit 1958 hat sich die Zahl der Studenten verzehnfacht. Katholische Kinder, Mädchen, Landkinder, Arbeiterkinder, Sie finden alle an den Universitäten. Die Kardinalfrage lautet viel mehr: Was ist mit den anderen, was ist mit dem Rest?

SPIEGEL: Welche anderen, welcher Rest?

Dahrendorf: Ich meine diejenigen, die durchs Raster fallen, vom Kindergarten oder von der Vorschule angefangen. Das ist eine relativ große Gruppe von jungen Menschen, die Schule oder Lehre nicht schaffen. Sehr oft sind es Migranten oder Migrantenkinder. In meinem Städtchen im Schwarzwald sehe ich das Problem mit eigenen Augen: Die eine Hälfte arbeitet, und die andere sitzt im Park und trinkt Bier. Und die will ich gerne kriegen. Da liegt heute eines der großen deutschen Bildungsprobleme.

SPIEGEL: Und darum kümmern sich die Politiker heute zu wenig?

Dahrendorf: Ja. Unter anderem, weil die sogenannten linken Parteien zu Akademikerparteien geworden sind. Gerade die SPD und die Grünen haben viele Mitglieder, die es eben durch die Reformen in den sechziger Jahren geschafft haben zu studieren. Und die sorgen jetzt für sich selber. Das sind die Bauernverbände der Neu-Akademiker. Dass die etwa gegen Studiengebühren sind, ist reine Klientelpolitik. Das täuscht uns nicht nur über die fundamentalen Veränderungen, sondern auch über das wirkliche Problem.

SPIEGEL: Ist es denn nicht sozial und gerecht, wenn ein Studium kostenlos ist?

Dahrendorf: Nein, das hat nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, sondern nur etwas mit den massiven Interessen bestimmter Gruppen. Wenn sie wirklich sozial denken würden, dann würden sie daran denken, dass ein akademisch Ausgebildeter später meistens deutlich mehr verdient. Ich bin deshalb ein Anhänger der Graduiertensteuer. Wer studiert hat und ein bestimmtes Einkommen erzielt, soll eine Abgabe zahlen. Aber das ist mit den Parteien nicht zu machen.

SPIEGEL: Es kommt uns etwas merkwürdig vor: Ein Mitglied des House of Lords, eines der exklusivsten Zirkel der Welt, tadelt vom Volk gewählte Vertreter, weil deren Politik zu sehr auf eine Elite, auf die Akademiker zielt?

Dahrendorf: Ach, der Witz der Politik ist, dass diejenigen, die nichts mehr zu gewinnen oder verlieren haben, einfach unabhängiger sind als diejenigen, die noch strampeln.

SPIEGEL: Und was empfehlen Sie denen, die noch strampeln?

Dahrendorf: Es gibt viel zu tun, wir müssen etwa dringend aufpassen, dass wir die duale Ausbildung am Leben erhalten. Aber ich will Ihnen ein praktischeres Beispiel nennen. Eines der großen Probleme ist nach wie vor das Mittagessen. Das kriegen die einfach noch nicht hin, dass sie in den Schulen oder Kindergärten ein möglichst auch noch gesundes Mittagessen fabrizieren. Da hakt es, und wenn es da hakt, dann hakt es auch generell.

SPIEGEL: Die Bildungsrepublik droht am Essen zu scheitern?

Dahrendorf: Ja, es kann sehr wohl sein, dass eine Bildungsrepublik am Mittagessen scheitert. Wenn es kein entsprechendes Angebot gibt, werden Frauen, also Mütter, nur begrenzt beruflich tätig sein. Und für die Kinder bleibt nur ein viel zu enger Raum. Um Befähigungen auszubilden, braucht es aber auch die Möglichkeit, dass man mit anderen zusammen lebt, nicht nur, dass man in irgendwelchen Klassen sitzt und was lernt.

SPIEGEL: Sie plädieren also für Ganztagsschulen?

Dahrendorf: Ganz sicher.

SPIEGEL: Und auch für Gemeinschaftsschulen?

Dahrendorf: Nein, da würde ich ruhig die Vielfalt lassen, die sich in Deutschland entwickelt hat. Wichtiger fände ich, dass wir ein Moratorium für Experimente verhängen, damit sich die Leute ein bisschen daran gewöhnen könnten, was es eigentlich für Angebote gibt. Am Bildungswesen wird so viel herumgefummelt, das kann man gar nicht anders nennen. All diese Diskussionen um die Zahl der Schuljahre, um die verschiedenen Schulformen, die Gesamtschule. Das führt, wie wir ja zuletzt bei den bayerischen Landtagswahlen gesehen haben, zu Missstimmungen bei Eltern. Sie wollen lieber ein verlässliches als ein sich dauernd veränderndes Bildungswesen.

Dahrendorf über Bildung als Bürgerpflicht, Kaffeefahrten mit der Firma, "falschen Föderalismus" - und das, "was man so Humboldt nennt"

SPIEGEL: Auch die Hochschulen sind derzeit in einem Umbruch. Die Bologna-Reform bedeutet in manchen Bereichen tiefgreifende Veränderungen.

Dahrendorf: Ja, aber darüber freue ich mich. Die Unis haben viel zu lange trotz Verzehnfachung der Studenten und auch der Lehrenden eine Ideologie gepflegt, die gar nicht mehr dahingehört.

SPIEGEL: Welche Art von Ideologie?

Dahrendorf: Das, was man so Humboldt nennt.

SPIEGEL: Was haben Sie denn gegen Humboldt, gegen die Einheit von Forschung und Lehre?

Dahrendorf: Gar nichts. Abstrakt sagt mir die Idee sogar sehr zu. Aber konkret bringt es unlösbare Probleme, wenn man die Hochschulen so weit öffnet. Wie wollen Sie das denn heute machen, wenn man diese Riesenzahlen von Studenten hat? Ich habe ja schon in den sechziger Jahren ein Kurzstudium befürwortet ...

SPIEGEL: ... von drei Jahren Dauer und mit dem Abschluss Bakkalaureus ...

Dahrendorf: ... was genau jetzt eingeführt worden ist. Und dennoch haben die Unis nicht hinreichend begriffen, dass sie in einer neuen Welt zurechtkommen müssen. Dazu zählt auch, dass es ein völlig neues Verhältnis von Universität und Berufswelt gibt. Aber weil Wirtschaft für viele ein böses Wort ist, wird auch nichts getan, um eine gewisse Verzahnung mit der Berufswelt herbeizuführen. Da haben vielen Unis in Deutschland noch einen großen Schritt zu tun. Den haben sie in England getan.

SPIEGEL: Warum fällt es den Briten leichter?

Dahrendorf: Die haben das 19. Jahrhundert verpasst. Als Kant in Königsberg war, durfte er nicht Philosophie lesen, sondern musste physische Geografie lehren. Das Lehrbuch bekam er aus Berlin. Das musste er vorlesen, und das hat er auch getan. Das ist die Universität vor Hegel und vor Humboldt, und in dieser Tradition stehen die britischen Hochschulen. Lange wirkten sie deshalb rückständig, aber heute haben sie es leichter.

SPIEGEL: Den Deutschen hingegen werfen Sie vor, Bildung in einem überkommenen, elitären Sinn zu verstehen und deshalb die Ausbildung der heutigen Studentenmassen zu vernachlässigen?

Dahrendorf: In Deutschland hat schon das Wort Ausbildung negative Untertöne, was sehr bedauerlich ist. Umgekehrt hat das Wort Bildung elitäre Untertöne, weil man dann immer gleich daran denkt, dass man Goethe lesen und ins Museum gehen muss. Ich überlege schon seit langem hin und her, ob es andere Ausdrücke gibt. Befähigung wäre vielleicht ein gutes Wort. Die Briten haben es viel leichter, education ist treffend und ohne Untertöne.

SPIEGEL: Und die Praxis in Großbritannien ist tatsächlich so anders?

Dahrendorf: Als ich die London School of Economics geleitet habe, habe ich 22-Jährige zu lecturers ernannt. Das waren begeisterte Lehrer, und die Studenten schimpften nicht darüber. Aber in Deutschland fängt halt fast jeder, der eine Dozentur bekommt, gleich an, die Ideologie der Einheit von Forschung und Lehre zu vertreten. An deutschen Hochschulen dürfen viele, die es könnten, nicht lehren, weil sie in der Hierarchie nicht die richtige Position haben. Wenn einer sich mit 40 habilitiert und dann anfängt zu lehren, kann er gar nicht mehr den Enthusiasmus entwickeln, den er mit Ende 20 hatte. Ich weiß das aus eigenem Erleben.

SPIEGEL: Wie alt waren Sie, als Sie in Saarbrücken zu lehren begonnen haben?

Dahrendorf: 25. Da war ich bestimmt ein besserer Lehrer, als ich es mit 40 war.

SPIEGEL: Vor mehr als 40 Jahren haben Sie in einem SPIEGEL-Gespräch gefordert, Professuren mit dem Schwerpunkt Lehre einzuführen. Ähnliches hat der Wissenschaftsrat gerade wieder gefordert. Haben Sie noch Hoffnung, dass sich etwas tut?

Dahrendorf: Ja, denn es wäre zu billig, die Hoffnung aufzugeben.

SPIEGEL: Würde sich insgesamt mehr in Deutschland tun, wenn es keinen Föderalismus gäbe und der Bund statt der Länder für alles zuständig wäre?

Dahrendorf: Der Föderalismus in Deutschland ist ja gar nicht echt. Denn eigentlich wäre der Sinn des Föderalismus, dass man den Wettbewerb erlaubt. Nur findet er ja gar nicht statt.

SPIEGEL: Sie haben selbst diesen Föderalismus mitgemacht, Sie waren etwa kurz Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag.

Dahrendorf: Ich war zwei Jahre lang stellvertretender Fraktionsvorsitzender, eine intensive Zeit. Aber Landtagsabgeordneter ist nun wirklich nicht das Schönste in der Politik. Ich bin zwar ein begeisterter Parlamentarier, und es war auch nett im baden-württembergischen Landtag ...

SPIEGEL: ... aber?

Dahrendorf: Das hat natürlich Elemente eines Schülerparlaments. Da heißt es dann: Der Landtag möge beschließen, die Landesregierung zu ersuchen, sich bei der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass bei den Agrarverhandlungen in Brüssel die Lage der Berglandwirtschaft besonders berücksichtigt wird.

SPIEGEL: Und was schließen wir daraus - Landtage abschaffen oder Landtage stärken?

Dahrendorf: Stärken natürlich! Es ist doch abenteuerlich, dass es da Parlamente gibt, die keine Steuern erheben können. Das ist das erste Recht und die erste Pflicht von Parlamenten, und das können Landtage nicht. Von daher ist das alles ein falscher Föderalismus, das gibt es nicht noch mal.

SPIEGEL: Aber wenn wir nur auf verwirrende Vielfalt der bildungspolitischen Experimente schauen: Wäre es nicht einfacher und besser, den Bund zumindest in der Bildungspolitik zu stärken und wieder mehr Kompetenzen auf ihn zu übertragen?

Dahrendorf: Einige Länder haben in der Vergangenheit ja ganz gute Politik gemacht. Sie müssten nur endlich alle akzeptieren, dass sie auch miteinander konkurrieren. Das ist merkwürdigerweise nicht der Fall.

SPIEGEL: Auf dem Bildungsgipfel wollen Bund und Länder unter anderem beschließen, sich gemeinsam stärker um die Weiterbildung zu kümmern. Ist das wirklich eines der drängendsten Probleme?

Dahrendorf: Oh ja, unbedingt. Denn das ist die zweite große Gruppe, die durchs Raster fällt: diejenigen, die mit 40 den Beruf wechseln müssen. Sie haben bislang zu wenige Möglichkeiten, sich dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Wir haben einfach diese Arbeitsmarktveränderungen bisher nicht verdaut. Die Deutschen denken immer noch an ihre Firma als den Ort, an dem die Kaffeefahrten starten, wenn Sie pensioniert sind. In meiner badischen Lokalzeitung, die ich berate, werden die Leute immer noch abgebildet, wenn sie zum 40. Arbeitsjubiläum vom Chef eine Kiste Wein geschenkt bekommen.

SPIEGEL: Haste was, dann bleibste das.

Dahrendorf: So ungefähr. Aber viele sind eben keine Kruppianer oder Daimleraner mehr, sondern vier Jahre hier und fünf Jahre da. Ich beobachte in Deutschland eine sehr starke Diskriminierung der Menschen um die 40 oder 45. Die müssen sich umorientieren, aber das ist nicht leicht, weil es ihnen oft an einem Angebot fehlt. Wir tun erstaunlich wenig für diese Menschen. Die Firmen haben Angst, dass sie die Konkurrenz bedienen, und der Staat hält keine rechten Einrichtungen parat.

SPIEGEL: Was sollte man tun?

Dahrendorf: Es muss einfach ein Angebot da sein, wo man gerne hingeht, wenn man noch was ganz anderes tun will, und das können nicht nur die Volkshochschulen sein. Die Universitäten müssen sich zum Beispiel stärker öffnen. Ich will ja gar kein eigenes neues Bildungswesen erfinden, also Weiterbildungsschulen oder ähnliches. Aber es wäre gut, wenn wir wenigstens einheitliche Standards hätten.

SPIEGEL: Ist das denn nur ein Problem des Angebots, oder sind wir vielleicht alle auch ein bisschen bequem? Ist Bildung angesichts der Arbeitsmarktveränderung heute nicht Bürgerrecht, sondern Bürgerpflicht?

Dahrendorf: Das ist eine sehr gute These. Pflicht ist ein Wort, mit dem ich vorsichtig bin, aber es ist eine Notwendigkeit. Das heißt, man tut gut daran, wach und lebendig zu bleiben und Neues zu betreiben.

SPIEGEL: Lord Dahrendorf, Sie sind jetzt 79 Jahre alt. Wie halten Sie es denn selber mit dem lebenslangen Lernen?

Dahrendorf: Ich habe früher immer darüber Witze gemacht, dass ich bei der Dampfschreibmaschine geblieben bin. Damit meine ich also die mechanische, nicht die elektrische, und meine Olivetti ist mir lieb und teuer. Aber ich lache nicht mehr darüber, sondern habe jetzt angefangen, wenigstens ein bisschen am Computer zu lernen.

SPIEGEL: Haben Sie eine E-Mail-Adresse?

Dahrendorf: Ich hab’ hier ein Büro, und da hab’ ich auch E-Mail.

SPIEGEL: Wenn wir Ihnen die Mitschrift dieses Gesprächs vorlegen wollen, bevor wir es veröffentlichen, können wir also eine E-Mail schicken?

Dahrendorf: Ach, schicken Sie es doch mit der Post. Das geht doch auch schnell.

SPIEGEL: Lord Dahrendorf, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Markus Verbeet und Alfred Weinzierl

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