Max in Istanbul Ein Kampfkamel namens Tsunami
Montag, 5. Januar: Wo sind meine Homeboys?
Ist das noch meine Straße? Sie sieht ihr ähnlich: Die Altbauten, die Schlaglöcher, der Krämerladen an der Kreuzung. Doch seit wann verkaufen meine Nachbarn Sushi? Und Anzüge aus Italien? Ich war in Deutschland, zwei Wochen nur, jetzt bin ich zurück in Istanbul - und erkenne die Straße, in der ich wohne, kaum wieder.
Im Haus nebenan, das bisher leer stand, hat ein japanisches Restaurant eröffnet, und den Schlosser gegenüber hat ein Modeladen verdrängt. So geht das nun schon seit einem Jahr: Nachbarn kommen und gehen. Im ersten Stock hat ein Architekturbüro ein türkisches Ehepaar ersetzt, im zweiten wohnt jetzt ein Pariser Grafikdesigner statt einer türkischen Familie. Bald bin ich der dienstälteste Mieter im Haus.
Natürlich gibt es für den Wandel ein Modewort: Gentrifizierung - die Yuppisierung eines Stadtteils. Die Berliner am Prenzlauer Berg klagen darüber, die Hamburger im Schanzenviertel, die New Yorker im Meatpacking District. Doch der Wandel, den Istanbul durchlebt, ist Gentrifizierung im Zeitraffer.
Noch vor drei Jahren, erzählt Ubeyd, mein Mitbewohner, sei es möglich gewesen, in der Innenstadt für 50 Euro im Monat eine Wohnung zu mieten. Heute hat Glück, wer in Beyoglu für 300 Euro ein Zimmer findet. Ubeyd und ich bezahlen gemeinsam 700 Euro für eine Dreizimmerwohnung - und das auch nur, weil unsere Vermieterin, eine ältere türkische Dame, die Miete länger nicht erhöht hat.
Beyoglu war bis vor wenigen Jahren ein Slum. Die Häuser standen leer, Jugendliche verkauften Drogen, die Mafia Waffen. Nur Wahnsinnige oder Verbrecher wagten sich in den Stadtteil am Goldenen Horn. Doch als sich die türkische Wirtschaft 2002 zu erholen begann, zogen Studenten und junge Familien in die Altbauwohnungen. Es folgten Künstler, Designer, Musiker.
In Beyoglu küssen Kopftuchmädchen Jungen mit Ringen in der Nase und Tattoos auf dem Arm. In den Clubs tanzen Frauen zu schnellen Drum'n'Bass-Rhythmen - Lucky Strike im Mund, Gin Tonic in der Hand, Lebensgier in den Augen.
Kerim, der vor einem Monat einen Feinkostladen in meiner Straße eröffnet hat, sagt, Istanbul erlebe gerade eine Wiederauferstehung. "Die Menschen blicken nach vorn. Daran hat auch die Finanzkrise nichts geändert." Alper war als Manager für das Formel-1-Rennen in Istanbul verantwortlich, jetzt verkauft er italienische Salami und französischen Wein. "Noch nie waren die Bedingungen für einen eigenen Laden günstiger", sagt er.
Sonntag, 18. Januar: "Dieses Duell vergessen Sie nicht!"
Ich bin mit einem Freund in den Süden gefahren - nach Ephesos. Griechen und Römer haben in Ephesos Theater und Paläste erbaut, Österreicher haben die Bauten zweitausend Jahre später ausgegraben, und so kommen heute jedes Jahr Hunderttausende Touristen an die Ägäis.
Claudius und ich sind jedoch aus einem anderen Grund hier: Einmal im Jahr treten in Ephesos Kamele zum Kampf an - zur Unterhaltung der Zuschauer, vor allem aber zum Ruhm ihrer Besitzer.
Die Geschichte des Kamelkampfs ist älter als die Geschichte der Türkei. Sie beginnt mit Duellen zwischen Nomaden-Karawanen im Osmanischen Reich vor mehr als 300 Jahren. Der Kamelkampf hat die Revolution überlebt, Atatürk, die Moderne. Noch immer reisen Tausende Zuschauer zu den Turnieren in Izmir, Bursa und Ephesos. Einige hundert Kamele kämpfen in der türkischen "Camel-Wrestling-League"; von November bis März ziehen sie jeden Sonntag in einer anderen Stadt in die Schlacht.
Wir treffen Mehmet Uyar, 63, Kamelhüter aus Pelitköy in Anatolien. Seit vielen Jahren nimmt er mit seinem Kamel Tsunami an den Turnieren teil.
Der Festival-Lärm steigert sich zu einem Tosen, als wir auf die Straße zur Arena einbiegen. Kinder schreien, Kamele stöhnen, aus den Boxen dröhnt türkischer Schlager. Soldaten helfen beim Ausladen der Kamele. Die Frauen an den Ständen verkaufen Kamelwurst, Döner-Kebab, Tee.
"Dieses Duell werden Sie nicht vergessen!", ruft der Stadionsprecher. Kamel sind keine geborenen Kämpfer, sie müssen zum Raufen verleitet werden. Deshalb führen die Betreuer den Bullen ein Weibchen vor. Tsunami läuft Speichel aus dem Mund. Sein Gegner legt den Kopf schief, dann gehen die Kamele aufeinander los. Es verliert das Kamel, das zuerst fällt oder flieht.
Wende im Kamelkampf: Tsunamis unglaubliches Comeback
Die Zuschauer springen von den Sitzen. Tsunamis Hufe graben sich in den Sand. Er stürzt. "Eins! Zwei! Drei!" Der Ringrichter klatscht in die Hände. Mehmet verzieht das Gesicht zu einem lautlosen Schrei. Doch Tsunami kann sich befreien. Er wirft sich auf den Kontrahenten und drückt ihn zu Boden. "Allah! Allah! Das hat es noch nicht gegeben!" Die Stimme des Stadionsprechers überschlägt sich. Kamelhüter Mehmet reißt die Hände hoch. "Tsu-na-mi! Tsu-na-mi!", rufen die Zuschauer.
"Unglaublich! Ein unglaublicher Kampf!", sagt Mehmet noch Stunden später. Er hat uns nach Pelitköy eingeladen. Wir sitzen in der Abstellkammer der Tankstelle und trinken Tee. Mehmet arbeitet als Tankwart. Seit vielen Jahren hütet er die Kamele seines Chefs. Er füttert sie, er führt sie aus. Die Kamele sind Mehmets Leben geworden, genauer: Der Kamelkampf ist sein Leben geworden.
In seinem Handy hat Mehmet Fotos seiner Töchter gespeichert - und von Kamelen. Die Fotos seiner Frau hat er gelöscht. Sie hat ihn gezwungen, sich zu entscheiden: "Familie oder Kamele", sagte sie. Mehmet schläft jetzt in der Tankstelle. Bett und Schrank füllen das Zimmer aus. Von den Wänden bröckelt der Putz. In der Luft klebt der beißende Gestank der Trampeltiere.
Vermisst Mehmet seine Familie? Ist er einsam? Mehmet hebt die Brauen und schiebt die Unterlippe vor. Einsam? Warum? Er habe ja die Tiere.
Von Montag bis Freitag steht er an der Zapfsäule und wartet auf Kunden. Vor allem aber wartet er auf das Wochenende. Dann tankt er den Lastwagen voll und fährt in die nächste Stadt - zum nächsten Kampf.
Dienstag, 24. Februar
Ich glaube, schizophren ist das Wort, das die Türkei am besten beschreibt. In einer der Nebenstraßen in meinem Viertel sind in den Schaufenstern auffällig viele Perücken zu sehen. Fromme Studentinnen, die ihre Haare trotz des Kopftuchverbots bedecken wollen, kaufen in den Läden ein; außerdem Istanbuls Transsexuelle. Die extrovertierte Transe und das scheue Kopftuchmädchen in ein und demselben Geschäft - das Bild trifft recht gut die vielen verschlungenen Wege in die Moderne, die die Türkei kennt.
Vor einigen Wochen war ein Freund aus Deutschland zu Besuch. Wir spielten spätabends Fußball in meinem Wohnzimmer, eine Dummheit, keine Frage. Plötzlich knallte es. Die Tür flog auf, fünf Männer standen in meiner Wohnung. Sie rasten, sie tobten, sie schrien.
Es waren meine Nachbarn, sie fühlten sich von dem Lärm gestört, jetzt wollten sie sich rächen. Hätte Ubeyd, mein Mitbewohner, sie nicht beruhigt, sie hätten uns zusammengeschlagen. Ich konnte es nicht glauben: Eine Woche zuvor hatten uns unsere Nachbarn zum Tee eingeladen, jetzt traten sie wegen einer Belanglosigkeit die Haustür ein und gingen auf mich los.
Donnerstag 19. März
Ich treffe Belkis Boyacigiller, 27. Sie führt das Babylon, den wichtigsten Musik-Club Istanbuls. Grandmaster Flash trat im Winter im Babylon auf und Patti Smith. Belkis ist in Los Angeles aufgewachsen, vor vier Jahren kehrte sie in das Heimatland ihrer Eltern zurück. "In den USA hätte ich noch Jahre lang als Praktikantin Kaffee gekocht. In Istanbul ist gerade alles möglich", sagt sie. "Die Türkei ist so jung und so dynamisch, wandelt sich so atemraubend. Es geht gerade erst los."
Belkis drückt aus, was viele Türken denken. Istanbul ist voller Versprechungen, voller Abenteuer - voller Anfang. Ich bin 23, zu jung, um mich an den Fall der Mauer zu erinnern. Aber nach allem, was ich weiß, muss Berlin einmal so gewesen sein, wie Istanbul heute ist: wild, hungrig, siegesgewiss.
Maximilian Popp, 23, studiert seit Oktober 2007 Internationales Recht und Politik in Istanbul. Zuvor hat er die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg besucht und als Redakteur bei Spiegel Online gearbeitet.