Meinungsfreiheit Wie man die Inszenierung als Opfer durchkreuzt

In Deutschland gibt es eine Gedankenpolizei, so lautet ein Vorwurf aus der rechten Szene. Nach den Protesten gegen die Vorlesung des AfD-Mitgründers Bernds Lucke in Hamburg wird darüber wieder diskutiert.
Solche Störungen gibt es immer wieder - so stürmten Rechte den Vortrag des Sprachforschers Eric Wallis.
Vertreter der rechtsextremen "Identitären Bewegung" störten seine Rede, um zu belegen, dass die Meinungsfreiheit gefährdet sei. Wallis nahm das als Lehrbeispiel. Daran sehe man, was hinter der rechten Inszenierung als Opfer stecke.
"Gehirne waschen - Framing gegen Fremdenhass" heißt das Thema, zu dem Wallis im November 2018 im Rahmen einer 24-Stunden-Vorlesung an der Universität Greifswald spricht. Politiker wie Philipp Amthor von der CDU und Gregor Gysi von der Linken sind ebenfalls eingeladen. Um 14 Uhr ist Wallis, hauptamtlich Pressesprecher bei Greenpeace, dran.
Mitten in dessen Vortrag stürmen Männer von der rechtsextremen "Identitären Bewegung" herein. Sie rufen "Tradition. Multikulti Endstation" und entrollen ein Banner: "Man wird doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen". Das ist auch auf Videos zu sehen.
Meine Vorlesung über die #Manipulation besorgter Bürgerinnen & Bürger durch Rechtes #Framing wurde angereichert mit einem Praxisbeispiel der sogenannten #Identitären. Leider ging ihr #Opfer_Framing nicht auf. #Greifswald @wissen_lockt pic.twitter.com/TkluPmqmMV
— Eric Wallis ☝️👀 (@wortgucker) November 18, 2018
SPIEGEL: Herr Wallis, was war da los?
Eric Wallis: Was im Video nicht zu sehen ist: Ich hatte gerade darüber gesprochen, dass Rechte mit starker Übertreibung arbeiten, da ist ein Mann aufgestanden und hat mir widersprochen: Es seien ja auch Leute im Namen des ganzen Multikulturalismus ermordet worden, er verwies auf Terroranschläge.
SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert?
Wallis: Ich habe seinen Punkt aufgegriffen und ihn eingeladen, im Anschluss an die Vorlesung mit uns zu diskutieren. Kurz darauf sind die Männer von der "Identitären Bewegung" hereingestürmt. Ich habe ihnen gesagt, sie könnten gerne ihre Meinung sagen, und sie eingeladen zu bleiben. Aber sie wollten nicht. Sie sind gegangen.
SPIEGEL: Andere hätten an Ihrer Stelle den Sicherheitsdienst gerufen. Warum Sie nicht?
Eric Wallis: Ich glaube, dass die Vertreter der "Identitären Bewegung" es genau darauf angelegt hatten. Sie wollten, dass ich den Mann, der mir widersprochen hatte, des Raumes verweise und sage, solche Meinungen hätten hier nichts zu suchen. Genau das habe ich nicht getan. Damit habe ich deren Plan, sich als Opfer eines linken Meinungsdiktats zu inszenieren, durchkreuzt. Diesen Punkt wollte ich sie nicht machen lassen.

Eric Wallis ist Sprachforscher, Blogger und Pressesprecher bei Greenpeace in Hamburg. Von 2015 bis 2018 leitete Wallis das Regionalzentrum für demokratische Kultur in Mecklenburg-Vorpommern. Er hat an der Universität Greifswald studiert und ist dort Gastdozent.
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf, dass so etwas inszeniert werden sollte?
Wallis: Ich erfuhr später, dass der Mann zu der Gruppe gehörte. Wenige Augenblicke nachdem er gesprochen hatte, kamen die Leute von der "Identitären Bewegung" herein. Einige waren als Sicherheitskräfte verkleidet und haben vorgespielt, dass sie den Mann abführen. Aber das hätte ja nur Sinn ergeben, wenn ich ihn vorher abgeblockt hätte. So haben sie jemanden abgeführt, den ich vorher zur Diskussion eingeladen hatte.
SPIEGEL: Haben Sie sich in der Situation bedroht gefühlt?
Wallis: Überhaupt nicht, zumal die Leute ja nicht randaliert haben. Der Auftritt war vielmehr ein schönes Lehrbeispiel für meine Vorlesung, sogar eine Bereicherung. Da kamen das echte Leben und die Diskussion um Meinungsfreiheit in den Hörsaal. Ich und viele andere im Saal waren sicher anderer Meinung als die Störer, aber ich fand: Wir halten das jetzt aus, und im Notfall moderiere ich das.
SPIEGEL: Sie finden es ok, wenn ihre Vorlesung gestürmt wird?
Wallis: Ich kenne die Situation auch von der anderen Seite, ich habe selbst schon zivilen Ungehorsam betrieben, zum Beispiel als Greenpeace-Aktivist. Dahinter steckt natürlich eine ganz andere Motivation als bei der "Identitären Bewegung", aber da haben wir auch Menschen gestört, um auf unser Anliegen aufmerksam zu machen. Ich finde das grundsätzlich in Ordnung, so lange die Protestform friedlich ist. Man muss sich an die Regeln des Diskurses halten.
SPIEGEL: Was meinen Sie konkret?
Wallis: Wenn jemand meine Vorlesung stört, hat der vielleicht ein berechtigtes Anliegen, dann soll er auch seine Meinung sagen dürfen, aber eben in der im Anschluss angebotenen Diskussion. Wenn jemand penetrant weiter stört, schließt er sich selbst vom Diskurs aus, und zwar sogar in den Augen der eigenen Anhänger. Das ist für mich das Interessante daran.
SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?
Wallis: Bei Twitter gab es nach dem Vorfall einige Kommentare von AfD-Anhängern, die sich von der These, die Rechten seien Opfer und würden in ihrer Meinungsfreiheit beschnitten, distanziert haben. Das war nicht die Masse, aber immerhin Einzelne.

Bernd Lucke verlässt nach seiner verhinderten Antrittsvorlesung den Hörsaal
Foto: Markus Scholz / DPADie These von der beschnittenen Meinungsfreiheit wird auch nach den Vorfällen bei den Vorlesungen des AfD-Mitgründers Bernd Lucke in Hamburg wieder diskutiert. Die erste Vorlesung am 16. Oktober wird nicht nur von einer kleinen, friedlichen Demonstration begleitet, organisiert vom AStA. Einige Aktivisten stürmen den Hörsaal und beschimpfen Lucke unter anderem als "Nazi-Schwein". Der bricht die Veranstaltung ab.
Bei Luckes zweiter Vorlesung am 23. Oktober versuchen Sicherheitskräfte, die Veranstaltung gegen Störer abzuschirmen. Vergeblich. Einige Demonstranten drängeln sich vorbei. Lucke bricht darauf wieder ab und verlässt den Saal. Der Vorfall wird scharf kritisiert. Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank von den Grünen spricht von "Unrecht in seiner reinsten Form".
Am 30. Oktober findet die Lucke-Vorlesung zum dritten Mal statt, unter massivem Polizeiaufgebot. Sie verläuft störungsfrei. Lucke hätte auf das Angebot der Universität eingehen und die Vorlesung per Livestream für seine Studierenden übertragen können. Aber das lehnte er nach Angaben der Universität ab.
Felix Steins, Student der Sozialökonomie, der für diesen Tag erneut eine Demonstration gegen die Vorlesungen angemeldet hat, glaubt: "Lucke geht es stark um Selbstinszenierung". Lucke selbst antwortet auf eine SPIEGEL-Anfrage für ein Interview nicht. In der "ZEIT" spricht er von einem "Angriff auf die Meinungsfreiheit, verbunden mit der Forderung nach einem Berufsverbot".
Wie Herr Lucke hätte reagieren können
SPIEGEL: In Ihrem Fall haben Rechte die Vorlesung gestört, bei Herrn Lucke kam massiver Protest von der Gegenseite. Wie hätte er reagieren können?
Wallis: Vielleicht hätte Herr Lucke etwas erreichen können, wenn er die gezielte Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas durch die AfD und deren Sprache als Fehler eingeräumt hätte. Dazu hätte er aber bereit sein müssen, die Protestierenden in genau diesem Punkt verstehen zu wollen.
SPIEGEL: Herr Lucke musste zwei Vorlesungen abbrechen. Ist er Opfer oder inszeniert er sich als Opfer?
Wallis: Herr Lucke ist dafür verantwortlich, dass es jetzt die AfD gibt, eine Partei, in der heute Faschisten wichtige, politische Ämter bekleiden. Herr Lucke hat sich in gewisser Hinsicht von der Partei distanziert. Wenn Menschen nun jedoch dagegen protestieren, dass dieser Mann an einer Universität lehrt, ist das wichtig und legitim. Aber: Es darf nicht zu verbaler und körperlicher Gewalt kommen. Das ist nicht in Ordnung, und es entkräftet auch den Protest.
SPIEGEL: Wem nützt der Protest?
Wallis: Ich weiß nicht, ob er am Ende Herrn Lucke nützt. Der ist eigentlich weg vom Fenster, politisch bedeutungslos. Gegen den kann man protestieren, würde ich aber nicht machen. Die Stürmung seiner Vorlesung nützt ganz sicher Rechtspopulisten, AfD-Funktionären, die es auf eine Spaltung der Gesellschaft angelegt haben und immer wieder platzieren, die Meinungsfreiheit sei bedroht.
SPIEGEL: Ist sie bedroht?
Wallis: Meinungsfreiheit ist zu einem politischen Schlagwort geworden. Damit wird gerechtfertigt, dass jeder seine Meinung rausbrüllen darf, und dagegen darf keiner was sagen. Erstens vergessen Menschen dabei, dass andere eben eine komplett andere Meinung haben und diese äußern dürfen. Zweitens gehört zur Meinungsfreiheit die Dimension des Zuhörens. Nur so nützt Meinungsfreiheit unserer Gesellschaft: wenn wir Meinungen, die wir nicht mögen, zumindest zur Kenntnis nehmen und versuchen sie ansatzweise zu verstehen.

Polizisten überwachen den Zugang zur Vorlesung von AfD-Mitgründer Lucke
Foto: Axel Heimken/ dpaSPIEGEL: Wenn rassistische und menschenverachtende Sätze fallen, sind dann nicht Grenzen der Meinungsfreiheit erreicht?
Wallis: Gegenfrage: Was soll ich mit jemandem machen, der diese Grenzen überschreitet? Ihn ins Gefängnis sperren? Oder zumindest in sozialen Netzwerken blocken? Das spaltet die Gesellschaft weiter. Wenn ich glaube, moralisch auf der überlegenen Seite zu stehen und eine bessere Gesellschaft will, muss ich - selbst wenn mich die Meinungen anwidern - diese Menschen zum Kaffee einladen und fragen: "Wie kommst du zu deiner Meinung?"
SPIEGEL: Haben Sie das schon gemacht?
Wallis: Ja, und da stellt sich in den meisten Fällen heraus, dass viele Menschen, die AfD-Funktionären hinterherlaufen, von großer Angst getrieben sind, Angst, den Job zu verlieren, den Lebensstandard, die kulturelle Identität. Rechtspopulisten schüren diese Ängste mit einem bestimmten Framing.
Wie Menschen sprachlich programmiert werden
SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.
Wallis: Framing kann man als Versuch sehen, Menschen sprachlich zu programmieren. Wenn Rechtspopulisten Begriffe wie "Bevölkerungsaustausch", "Messereinwanderung" oder "Kontrollverlust" verwenden oder von sich als "Opfern" einer "Meinungsdiktatur" sprechen, lenken sie Menschen in eine bestimmte Richtung und schüren Ängste. Eine differenzierte Diskussion ist dann kaum mehr möglich. Auf der Gegenseite gibt es aber auch Ängste.
SPIEGEL: Welche?
Wallis: Das sind Ängste, die sich an einem "Nie wieder-Faschismus"-Framing festmachen. Wann immer rechte Einstellungen sichtbar werden, wird bei vielen Menschen auch aufgrund der deutsche Geschichte diese Denkrutsche aktiviert: "Nein, mit Rechten reden wir nicht. Das macht die nur salonfähig."
SPIEGEL: Das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Wallis: Diese pauschale Abwehr macht aber blind dafür, dass "diese Rechten" keine homogene Masse sind. Stattdessen verwenden Menschen das Wort "Nazis" für alle, die sich auf einer Pegida-Demo tummeln. Dieser Automatismus stärkt nun gerade die Gruppenidentität der Menschen, die dann trotzig rufen: "Na und, dann sind wir eben rechts". So spaltet sich die Gesellschaft immer weiter. So treiben Menschen, die sich gegen rechts positionieren, andere Menschen, die eigentlich keine Nazis sind, Leuten wie Björn Höcke in die Arme. Und die steuern durchaus die öffentliche Diskussion.
SPIEGEL: Wie das?
Wallis: Sie begehen gezielt sprachliche Grenzübertritte, streuen NS-Vokabular ein und wissen, dass sie uns damit triggern und einen Shitstorm auslösen, der weiter polarisiert. Das ist extrem gefährlich. Das zeigen für mich auch die vermehrten Angriffe und Drohungen aus der rechten Szene gegen Politiker. So etwas darf es nicht geben.
SPIEGEL: Wie kommt man da heraus?
Wallis: Erst wenn ich mir darüber bewusst werde, von welchen Framings ich geprägt bin, kann ich den Unterschied erkennen, zum Beispiel zwischen hartgesottenen Nazis und der älteren Dame, die Angst vor kriminellen Ausländern hat, aber durchaus zur Empathie fähig ist. Oder mir klarmachen, dass der syrische Familienvater nichts mit eingeschleusten Terroristen zu tun hat. Ich muss aus meiner Filterblase raus und mit Menschen reden, die anders denken. Nur so können wir uns aufeinander zubewegen.