Mit Streetdance zum Uni-Abschluss Tanzen für den Magister
Der Dreck der Straße klebt an 1600 zu langen Hosenbeinen. Viele Jeans, etliche Jogginghosen, deren Säume über den Boden schleifen. Einige Jugendliche haben sie mit Baseballkappen oder Hornbrillen kombiniert. Jeanne Labigne trägt zur schwarzen Jogginghose ein schwarzes T-Shirt, beides zwei Nummern zu groß. Zusammen mit rund 20 anderen stürmt sie die Tanzfläche des Tanzhauses NRW in Düsseldorf. Das macht sie sonst nur noch selten - allzu ambitionierte Tänzer sind in Clubs nicht willkommen.
"Igitt, wie du schwitzt", hat ein Mädchen zu Jeanne bei ihrem letzten Clubbesuch gesagt. Da hatte sie getanzt, House Dance zu House Musik, ihr Lieblingsstil. Jeanne will nicht auffallen. "Aber wenn ich tanze, falle ich immer auf", sagt sie.
Vor drei Jahren tanzte sie zusammen mit ihrer Freundin Hanneke im Finale der weltbesten House-Tänzer in Paris: bei "Juste Debout", dem größten Streetdance-Festival der Welt. Heute ist die Mainzer Studentin aus wissenschaftlichem Interesse hier, beim deutschen Vorentscheid für "Juste Debout" in Düsseldorf. Sie schreibt ihre Magisterarbeit in Ethnologie über Urbanen Tanz.

Streetdance: Der bessere Tänzer hat Recht
Ihre Arbeit nennt sich körperethnologische Studie, die wissenschaftlichen Ergebnisse gewinnt Jeanne als teilnehmende Beobachterin. Sie selbst tanzt nur in den Pausen. Zehn Interviews hat Jeanne mit Tänzern aus ganz Europa geführt, mit Leuten, "die in der Szene was zu sagen haben, die zum Kern gehören". Sie hat sich angesehen, wie sie trainieren, wie sie wohnen, wie sie tanzen, wie sie reden.
"Die grundlegende Frage meiner Magisterarbeit ist, warum seit den siebziger Jahren in dieser Art getanzt wird", sagt Jeanne. Sie will sie auf rund 100 DIN-A4-Seiten beantworten. Es geht um die Technisierung der Gesellschaft, um elektronische Musik, um Individualismus, Leistungsdruck und sozialphilosophische Überlegungen wie den Unterschied zwischen Körper und Leib.
"Ich gehöre nicht mehr dazu"
Doch je länger sich Jeanne wissenschaftlich mit Streetdance beschäftigt, desto fremder wird ihr die Szene. "Ich bin durch die Magisterarbeit kritischer geworden", sagt die 28-Jährige. "Ich gehöre nicht mehr dazu."
Beim Tanzen gehe es eigentlich darum, einen Ausdruck zu finden für etwas, was man sprachlich nicht ausdrücken könne, sagt sie. Wäre Streetdance eine Sprache, wäre sie eine sehr einsilbige. Eine Sprache ohne Worte für Trauer, Verlust oder Angst. Eine aggressive Sprache.
Der Legende nach fingen afroamerikanische und puertoricanische Jugendliche in der Bronx irgendwann in den Siebzigern an, Streitigkeiten zwischen Streetgangs mit Tanzduellen statt mit Schüssen zu klären. Wer den eindrucksvollsten Tanz hinlegte, hatte Recht. Der Streetdance war geboren.
Dieser Mythos konnte zwar nie belegt werden, doch Leute wie Bruce Ykanji, 33, glauben fest daran. Der Tänzer aus Paris hat "Juste Debout" vor acht Jahren gegründet, als Gegenentwurf zu den vielen Wettbewerben der B-Boys, der Breakdancer. Auch er tanzt nicht mehr in Clubs. Sogar vor die Tür gesetzt wurde er schon einmal: Er trinke zu wenig und brauche zu viel Platz auf der Tanzfläche, motzten die Türsteher. "Und wenn man in Paris auf der Straße tanzt, kommt sofort die Polizei", sagt Bruce.
Getanzt wird deshalb zu Hause vor dem Spiegel, in Tanzschulen - oder in Castingshows vor Juroren wie Detlef D! Soost. Auch beim deutschen Vorentscheid zu "Juste Debout" im Düsseldorfer Tanzhaus NRW erinnert vieles an ein Fernseh-Casting.
Der Re call ist ein Duell
"Wir sind weiter", schreit ein Mädchen und fällt ihrer Freundin um den Hals, Freudentränen kullern. Im Fernsehen wären die beiden jetzt im Recall. Bei "Juste Debout" ist der Recall ein Battle. Wer weiterkommt, soll kämpfen wie Jugendliche in der Bronx in den Siebzigern - beim Duell, Tänzer gegen Tänzer oder zwei gegen zwei, Tanzschritt gegen Tanzschritt.
Doch diese Welt ist weit weg, die Bilder der Castingshows dagegen sind präsent. Im Halbfinale müssen zwei Tänzerinnen ermahnt werden, nicht die Jury anzutanzen, sondern die Gegner. Und mehrere Tänzer packen sofort nach ihrer Niederlage enttäuscht ihre Sachen und gehen.
Es ist dieser Leistungsgedanke, dieses unbedingte Gewinnenwollen, was Jeanne inzwischen abstößt. Auch Bruce sähe es lieber, wenn alle miteinander tanzen würden, ohne zum Sieger gekürt oder zum Verlierer degradiert zu werden. "Aber dann kämen zum Finale in Paris nicht 12.000 Zuschauer, sondern 200", sagt er. Und schließlich geht es beim Streetdance ja auch genau darum: besser sein als der andere, Stärke beweisen.
"Viele Jugendliche fühlen sich vom urbanen Tanz angezogen, weil sie anders sein und nicht zum Mainstream gehören wollen", sagt Jeanne. "Aber sie sind genau das: Mainstream."
Von der Straße in die Tanzschule
Bruce hat mittlerweile sogar eine eigene Tanzschule gegründet, in der Jugendliche aus aller Welt HipHop, Locking, Popping, House und Top Rock lernen können. Das sind die fünf Kategorien, in denen Tänzer bei "Juste Debout" antreten können. Sie zählen zu den sogenannten Top HipHop Dances.
Die Kategorisierung ist jedoch irreführend. Locking entstand zum Beispiel in den Sechzigern, lange vor HipHop und wird auch nicht zu HipHop, sondern zu Funk getanzt. Und Top Rock ist eine Variante des Breakdance, nämlich der Part, bevor der Tänzer auf den Boden geht. Bei "Juste Debout" wird Top Rock erst seit diesem Jahr getanzt. Die Tanzstile im Wettbewerb können sich jederzeit ändern, Bruce ist da flexibel.
Auch im House Dance wird erst seit wenigen Jahren ein Sieger gekürt. Jeanne sagt, es sei nur Zufall gewesen, dass sie den deutschen Vorentscheid 2007 zusammen mit Hanneke, ihrer damaligen Tanzpartnerin, gewonnen habe. "Damals kannte House Dance hier noch niemand, deshalb war die Konkurrenz nicht so groß", sagt sie. "Schon ein Jahr später hätten wir auf keinen Fall mehr gewonnen."
Mit Hanneke tanzt sie manchmal noch in einem Tanzstudio in Mainz, in dem sie auch unterrichtet. Mit gemischten Gefühlen, wie sie sagt. Denn eigentlich will sie keine Choreografien vorgeben, will nicht zeigen, wie man "richtig" tanzt. Lieber ist es ihr, wenn die Schüler das selbst entdecken. So wie beim Tanzprojekt "Rhythm Girls", bei dem sie und Hanneke mit Mädchen verschiedener Schulformen und Kulturen ein eigenes Theaterstück entwickelten, einstudierten und aufführten. Das wäre auch eine Perspektive für die Zeit nach der Magisterarbeit: arbeiten als Tanztherapeutin.