Nassauer im Glück In das Stipendium hineingeboren

Bei vielen Stiftungen kann man sich nur mit einem Einser-Abitur für ein Stipendium bewerben. Bei der Förderung des Nassauischen Zentralstudienfonds zählt etwas ganz anderes: Man muss am richtigen Ort auf die Welt gekommen sein.
Von Matthias Thiele

Heike F. ist eine ziemlich normale Studentin. Sie studiert seit 2002 Biologie in Kiel und schreibt zurzeit ihre Diplomarbeit am Rechtsmedizinischen Institut in Frankfurt am Main. Sie war immer gut. Aber nicht so sehr deswegen hat die 24-Jährige ein Stipendium ergattert. Sie wird gefördert - weil ein Herrscher vor langer, langer Zeit eine ganz besondere Idee hatte.

Die Geschichte, wie dieses Stipendium entstand, liest sich wie ein Märchen: Es war einmal ein kleines Land zwischen Rhein, Main und Dill. Das Land hieß Herzogtum Nassau. Es existierte nur von 1806 bis 1866 und war sehr arm. Sein Herrscher, Herzog Wilhelm I., aber war ein reformeifriger Mann. Er setzte auf Bildung.

Auf seinen Befehl hin wurden überall im Land konfessionsungebundene Simultanschulen eingeführt. Und weil sein kleiner Staat den Landeskindern keine eigene Uni bieten konnte, handelte der Herzog zu Nassau mit dem Hannoveranischen Königshaus einen Staatsvertrag aus: Nassauer durften fortan an der Uni Göttingen studieren.

Um den Nassauern das Studium an der etwa 300 Kilometer entfernten Georg-August-Universität schmackhaft zu machen, spendierte der Herzog den Nassauer Studenten zudem jeden Tag ein Mittagessen in Göttingen. Zur Finanzierung dieser Reform gründete er den "Nassauischen Centralstudienfond" und stattete ihn mit Ländereien aus. Verwaltet werden sollte die Stiftung von seinen landeseigenen Behörden.

Das Königreich Hannover und das Herzogtum Nassau verschwanden 1866 von der Landkarte, weil sie sich mit Österreich gegen Preußen verbündet hatten – der "Nassauische Centralstudienfond" blieb bestehen. Doch statt einer warmen Mahlzeit am Tag verteilt der Fonds an seine Stipendiaten heute 1000 Euro pro Semester.

Der Ort muss stimmen

Und über die darf sich Heike F. aus Weilburg nun freuen. Den Tipp, sich für die Förderung zu bewerben, bekam die Biologin von ihrem Bruder. Er hatte vom Zentralstudienfonds gehört und war selbst Stipendiat. Auch Heike F. hatte Glück und bekam gleich im ersten Anlauf die Förderung über zehn Semester genehmigt. "Das Geld brauchte ich zum Teil zum Leben, zum Teil habe ich mir davon Bücher gekauft, die ich mir sonst sicher nicht hätte leisten können."

Jeder, der im ehemaligen Herzogtum Nassau geboren ist, kann es den Geschwistern F. nachtun - und sich um ein Stipendium bewerben.

Doch wo liegt eigentlich Nassau? Wo genau muss man auf die Welt gekommen sein? Heute befinden sich die Gebiete im südlichen Hessen und im nordöstlichen Rheinland-Pfalz. Dörfer wie Dernbach und Kirberg gehören dazu, Kleinstädte wie Hadamar, Bad Camberg und Dillenburg, die Landeshauptstadt Wiesbaden und die Enklave Reichelsheim in der Wetterau.

Historische Nachforschungen vor der Bewerbung sind also ratsam: "Wir bekommen zum Beispiel immer wieder Bewerbungen aus Mainz und Frankfurt. Aber leider müssen wir diesen Studierenden absagen: Zur Zeit der Stiftungsgründung war Mainz ein Teil von Hessen-Darmstadt und Frankfurt Freie Reichsstadt", sagt Bernhard Müller, der das Stiftungsvermögen verwaltet.

Doch weil das Herzogtum 1866 im preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden und der 1968, mittlerweile hessisch, mit dem Regierungsbezirk Darmstadt verschmolz, arbeitet der letzte Nassauer Beamte im Hessen-Darmstädter Ausland.

Nutznießer der Umgehungsstraße

Als Müller 1976 anfing, betrug alleine das Kapitalvermögen zwei Millionen Mark – zusätzlich besitzt der Fonds große Ländereien. Bis heute hat er daraus 11 Millionen Euro gemacht. "Und das, obwohl wir jedes Jahr mehr Geld ausgeschüttet haben", sagt er. Und eines ist ihm besonders wichtig: "Die Stiftung erwirtschaftet ihre Gewinne. Anders als die meisten Stiftungen erhalten wir keine Steuergelder."

Immer wieder kauft Müller Grundstücke, meistens Ackerland, und verpachtet es an Landwirte. "Mit ein bisschen Glück interessiert sich eine Verkehrsbehörde für das Weizenfeld, weil sie eine Umgehungsstraße bauen möchte. Oder der Acker wird irgendwann einmal zum Baugrundstück, dann kann ich ihn zum zehnfachen Preis verkaufen."

Stipendium

Insgesamt verteilt er jedes Jahr 250.000 Euro an die Stipendiaten. 500.000 Euro gehen an die Gymnasien auf dem Gebiet des ehemaligen Herzogtums. 125 Studenten bekommen Geld und nur wenn einer aus dem Kreis der Stipendiaten ausscheidet, rückt ein neuer nach.

Doch wer schließlich ein Stipendium bekommt - das kommt auf die Bedürftigkeit des Bewerbers und seine Leistungen in der Schule an. "Eine genaue Vorschrift, wie Bedürftigkeit und Leistung zu ermitteln sind, hat uns der Herzog nicht hinterlassen. Also habe ich ein System entwickelt, das das Einkommen der Eltern und die Abiturnote berücksichtigt", sagt Müller.

Die gedeckten Tische blieben leer

Wer einmal in die Stiftung aufgenommen wurde, bekommt damit die grundsätzliche Zusage, analog zur Bafög-Förderungshöchstdauer bis zum Abschluss des Studiums gefördert zu werden. "Damit unsere Stipendiaten dann auch tatsächlich Geld bekommen, müssen sie sich in jedem Semester eine Sonderleistung bescheinigen lassen. Das heißt, sie müssen eine Leistung erbringen, die nicht in der Studienordnung verlangt wird." Das kann ein Spanisch-Kurs sein oder eine zusätzliche Vorlesungsreihe. Als Belohnung gibt es derzeit 1000 Euro pro Semester.

Um den Lebensunterhalt für die Nassauer Studenten kümmern sich weiter der Staat und die Eltern. Fast alle Stipendiaten sind zudem Bafög-berechtigt, denn die Mittel aus dem Studienfonds dürfen den Studenten vom Bafög-Amt nicht als Einkommen angerechnet werden. "Es wäre nicht im Sinne Herzog Wilhelms, wenn wir die Aufgaben des Staates übernehmen würden", sagt Müller. "Es handelt sich um eine Belobigung für besondere Leistungen, denn der Herzog wollte, dass sich seine Landeskinder ohne existenzielle Sorgen ausschließlich, intensiv und vertieft ihrem Studienfortgang widmen können."

Essentielle Sorgen - das war früher ein leerer Magen. Darum wollte der Herzog den Studenten ja eine warme Mahlzeit bieten. Doch trotz dieser schönen Idee blieben die gedeckten Tische in Göttingen oftmals leer. Viele Nassauer gingen zum Studieren lieber ins näher gelegene kurhessische Marburg. Deshalb gaben sich immer öfter auch andere Studenten als Nassauer aus, um eine warme Mahlzeit zu erschnorren - sie nassauerten.

Über freie Plätze kann sich Bernhard Müller dagegen nicht beschweren: "Wir haben in jedem Jahr mehr Bewerber als Plätze."

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