Urteil zum Numerus clausus "Heftige Ohrfeige für kleinstaatliche Bildungspolitik"

Anatomie-Hörsaal
Foto: Waltraud Grubitzsch/ dpaDeutsche Hochschulen müssen sich nun Gedanken darüber machen, wie sie die Vergabe von Studienplätzen im Fach Medizin anders regeln können. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe bezeichnete die bisherige Praxis am Dienstag als teilweise verfassungswidrig. Bund und Länder müssen bis Ende 2019 die Auswahlkriterien neben der Abiturnote neu festlegen.
Das Urteil stieß unter Medizinern auf Zustimmung. Der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands begrüßte die Entscheidung der Richter: "Um ein guter Arzt zu werden, reicht die Abiturnote, also die Lernfähigkeit allein nicht aus", sagte der Bundesvorsitzende Dirk Heinrich.
Er forderte, künftig bundesweit weitere einheitliche Kriterien bei der Zulassung zu berücksichtigen, zum Beispiel persönliche Auswahlgespräche. Nur so könnten die Universitäten entscheiden, ob ein Bewerber auch empathisch sei und über soziale Kompetenz verfüge - wichtige Faktoren, die einen guten Arzt ausmachten.
Derzeit werden 20 Prozent der Studienplätze nach Abiturnote vergeben, 20 Prozent nach Wartezeit und der Rest in einem Auswahlverfahren direkt an den Hochschulen, bei dem allerdings auch die Abiturnote eine große Rolle spielt. Dieses Vorgehen kritisierten die Richter, unter anderem weil es die Chancengleichheit der Studierenden verletze.
Auch Medizinstudenten begrüßten das Urteil. "Wir sind mit der Entscheidung sehr glücklich", sagte Isabel Molwitz von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden dem SPIEGEL. "Nun werden viele Punkte umgesetzt, die wir seit Langem fordern", sagte sie. Bei der Bewerbung müssen die angehenden Studenten bisher sechs Städte nennen, an denen sie studieren wollen. Einige Universitäten nehmen jedoch nur Bewerber auf, die sie an erster Stelle genannt hatten.
Dadurch hätten Hunderte Bewerber jedes Jahr keinen Platz bekommen, obwohl sie die Voraussetzungen erfüllt hätten. "Und das nur, weil sie sich taktisch unklug beworben haben", sagte Molwitz. Sie selbst habe sich bei ihrer Bewerbung für Berlin entschieden und das Risiko in Kauf genommen, am Ende ohne Studienplatz dazustehen. Sie hatte Glück: Ihre Abinote von 1,2 reichte aus. "Es gibt jedoch Unis, da muss man mittlerweile einen NC von 1,0 mitbringen", kritisierte Molwitz.
Die Karlsruher Richter forderten eine angemessene Begrenzung der Wartezeit durch den Gesetzgeber, alles ab vier Jahren halten sie für "dysfunktional". Molwitz wünscht sich hingegen einen unabhängigen Studierfähigkeitstest, der nicht an die Abiturnote gekoppelt sei. Eine Verkürzung der Wartezeit sei nicht ausreichend, sagte sie.
Lob kommt auch von der Bundesärztekammer. "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist genau das richtige Signal zur richtigen Zeit", sagte Präsident Frank Ulrich Montgomery. Es sei eine gute Nachricht für motivierte junge Menschen, denen der Zugang zum Arztberuf bisher versperrt gewesen sein.
Zur mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts Anfang Oktober war auch die Bundesärztekammer eingeladen gewesen. Montgomery hatte in Karlsruhe unter anderem die mangelnde Transparenz bei der Studienplatzvergabe sowie zu lange Wartezeiten kritisiert und strukturierte Eignungsprüfungen gefordert.
"Das Urteil beinhaltet aber auch eine heftige Ohrfeige für eine kleinstaatliche Bildungspolitik, die es nicht schafft, das Abitur bundesweit chancengleich und chancengerecht zu gewährleisten", sagte Montgomery. "Auch die Bildungspolitik muss hier nachbessern."
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sagte, der Gesetzgeber sei nun gefordert, das Verfahren für die Zulassung zum Medizinstudium neu zu regeln. "Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat grundlegende Bedeutung für die Zulassung zum Studium der Humanmedizin", sagte sie der "Rheinischen Post".
Die Karlsruher Richter fordern, im Auswahlverfahren bei den Hochschulen eine Vergleichbarkeit der Abiturnoten über Landesgrenzen hinweg sicherzustellen. Bislang hängt die Abinote auch vom Wohnort der Schüler ab. In Thüringen erreichen beispielsweise 38 Prozent der Abiturienten einen Notendurchschnitt zwischen 1,0 und 1,9. In Niedersachsen sind es dagegen nur 17 Prozent.
Der Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands verlangt zudem, endlich für mehr Studienplätze zu sorgen. Verbandschef Heinrich wies darauf hin, dass die Anzahl der Studienplätze stetig gesunken sei. 1990 seien allein in den alten Bundesländern 12.000 Ärzte ausgebildet worden. Mittlerweile stünden in ganz Deutschland nur noch 11.000 Studienplätze zur Verfügung.
"Angesichts des drohenden Arztmangels und der Tatsache, dass bald die geburtenstarken Medizinerjahrgänge in Ruhestand gehen, ist hier schnelles Handeln Pflicht", sagte Heinrich. Eine Reform des Auswahlverfahrens reiche nicht aus.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert nach dem Urteil in Karlsruhe Konsequenzen für alle Studiengänge, für die ein Numerus clausus vorgesehen ist. Laut Hochschulrektorenkonferenz ist das derzeit bei 44 Prozent der 10.000 Studiengänge in Deutschland der Fall - und das, obwohl künftig nicht weniger, sondern mehr Akademiker benötigt werden, argumentiert die GEW.
"Die neue Bundesregierung muss daher schnellst möglich die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen schaffen, um den Numerus clausus zu überwinden", sagte Hochschulexperte Andreas Keller. Besonders problematisch sei der Numerus clausus wegen des akuten Lehrermangels in den Bildungswissenschaften. Die GEW fordert deshalb mehr Studienplätze und bundesweit einheitliche Richtlinien bei der Vergabe.