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Occupy Frankfurt auf Eis: "Wir sind winterfest"

Foto: Jule Schulz

Occupy-Studentin Gekommen, um zu bleiben

Eigentlich wollte sie fünf Tage bleiben, jetzt sind es schon vier Monate: Jule, 21, gehört zu den Protestcamp-Bewohnern, die noch immer im Frankfurter Bankenviertel zelten. Dort fröstelte sich die Studentin durch die meisten eisigen Winternächte - dabei ist ihre WG nur wenige Meter entfernt.

Vor der Kulisse der Europäischen Zentralbank (EZB) steht starr ein Zeltlager, an manchen Stellen überzogen mit Eis. "Wir übernehmen Verantwortung", steht auf dem Banner, das zwischen den Bäumen flattert. Passanten zweifeln daran, dass hier, nach Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Anfang Februar jetzt noch Menschen übernachten. "Die haben nur vergessen, ihre Zelte abzubauen", vermutet ein Mann.

Er irrt. Auch in klirrend kalten Nächten schlafen immer noch etwa 35 Menschen im Occupy-Camp Frankfurt am Main. Eine davon ist die 21-jährige Jule, sie studiert Erziehungswissenschaften in Frankfurt. Nach der Großdemonstration am 15. Oktober hat sie mit Freunden ihr Zelt aufgeschlagen. Jule will ein Zeichen setzen. "Wenn gerade in der ganzen Welt so viel passiert, müssen wir in Deutschland auch etwas unternehmen", dachte sie damals. Erst wollte sie nur vier bis fünf Tage bleiben, um gegen Ungerechtigkeit zu demonstrieren und auf Missstände aufmerksam zu machen. Jetzt sind es schon über 120 Tage und das Camp ihr zweites Zuhause. Eine Teilzeit-WG, denn Jule ist Teilzeit-Camper.

Angefangen hat der Protest am 17. September 2011 im New Yorker Zuccotti Park. Studenten trafen sich hier, Kleinunternehmer, Gewerkschafter und bankrotte Hausbesitzer. "Occupy Wall Street", lautet ihr Slogan, besetzt die Wall Street. Und: "Wir sind die 99 Prozent". Sie protestieren gegen die Macht der Banken, des Kapitalismus, im November machte die New Yorker Polizei das Camp dicht. Noch immer demonstrierten Aktivisten jedoch in aller Welt, auch in Deutschland, wo der Protest aber eher spärlich ausfiel. Jule haust im Zentrum der deutschen Occupy-Bewegung, in der Bankenmetropole Frankfurt am Main. Das Berliner Occupy-Camp hatten Polizisten Anfang Januar geräumt.

Jules Wohnung nur 500 Meter entfernt

Jule zeigt auf eine Sitzecke: Ein Tisch steht in der Mitte, umringt von Stühlen und Zelten, darüber ist eine blaue Plane gespannt. Das Wohnzimmer. Doch bei Minusgraden könnten sie hier nicht lange sitzen, sagt Jule. Ihren roten Schal hat sie bis zur Nasenspitze hochgezogen, darunter trägt sie einen Rollkragenpulli, darüber einen Wollpulli, darüber eine Winterjacke.

Jules Wohnung liegt nur 500 Meter vom Camp entfernt, Anfang Februar fiel es ihr teilweise schwer, im Camp zu schlafen. Das eigene Bett war so nah, genau wie fließendes, warmes Wasser, ihr Freund und ihre drei Mitbewohner. Manchmal kommen sie mit zu einem Workshop, oder ihr Freund übernachtet mit im Zelt.

Neben Studium und Occupy jobbt sie im Frankfurter Stalburg-Theater. Viel Zeit für die Uni bleibt momentan nicht, aber Eltern, Freunde und Bekannte stärken ihr den Rücken. "Meine Eltern sagen, ich kann ein Semester ausfallen lassen", sagt Jule. Mit ihnen trifft sie sich jede Woche zur Diskussionsgruppe über gesellschaftliche Themen wie der Israel-Palästina-Konflikt oder über das Urheberrechtsabkommen ACTA. Das macht sie, seit sie denken kann.

"Das hier ist eine wichtige Sache und hilft mir bei meinem Weiterbildungsprozess", sagt Jule über Occupy. Trotzdem kämpft sie manchmal mit sich und der Bewegung, wenn sich Versammlungen und Diskussionen am Abend hinziehen, wenn sie das Gefühl hat, nichts geht vorwärts. Neulich hat sie sich ein paar Tage Auszeit genommen. Für ihre Mitstreiter sei das völlig in Ordnung gewesen.

Edler Spender brachte 1200 Euro vorbei

Einen geregelten Tagesablauf gibt es nicht im Camp. Die Arbeitsgruppe-Winterfest, in der auch Jule Mitglied ist, hat sich Anfang November zum ersten Mal getroffen. Anfang Dezember haben sie jedes einzelne Zelt auf eine Europalette gestellt, um es vor Nässe zu schützen, Anfang Februar bauten sie die Wohnküche um, sie wollen wegen der Kälte die Laufwege verkürzen. Dazwischen Styropor-Schichten und über dem Lager hängen zusätzlich Planen.

Das Material schenkten ihnen Unternehmen, nachdem die Aktivisten zum Spenden aufgerufen hatten. Auch eine alte Frau kam mit Isolierfolie vorbei, kürzlich stellte einer ein Klavier ab, ein anderer warf einen Umschlag mit 1200 Euro in die Spendenbox. "Das war echt der Wahnsinn", sagt Jule. "Aber wir freuen uns auch über fünf Zahnbürsten und Zahnpasta."

Anfang Februar pfiff der Wind eisig durch die Ritzen des Planen-Pavillons, es ging vor allem darum, die Kälte zu überstehen. Jule lag oft abends im Zelt und ist dann doch nach Hause gegangen, weil es ihr zu kalt war. Aber ein Tipp von einem Obdachlosen half. Er zeigte ihr, wie sie mit zwei unterschiedlich großen Konservendosen und Teelichtern das Zelt heizen kann: In die kleine Dose kommt etwas Wasser und ein Teelicht, das Wasser löscht die Kerze, falls die Dose umfällt. Drüber stülpt Jule die größere Dose, in die sie Löcher gestochen hat. Mit der Zeit strahlt das Blech viel Wärme aus.

"Für eine Welt, die möglichst vielen gefällt"

"Man lernt hier so viel voneinander und kommt endlich mal aus seinen homogenen Alltagsstrukturen raus, wo man immer mit den gleichen Menschen zusammen hängt", sagt sie. "Wo hat man das sonst noch im Alltag?" Occupy-Anhänger aus der ganzen Welt kämen in Frankfurt zu Besuch, sagt Jule. Alle seien offen für andere Meinungen, für Kritik und Diskussion.

Gleichzeitig strengen Jule die teilweise mehrstündigen Diskussionen auch an - besonders die an Infoständen mit Passanten. Manchmal mache es sie wütend, wenn Passanten kein Verständnis für Occupy zeigen. Es gehe schließlich jeden etwas an. "Ich möchte die Welt so haben, dass sie möglichst vielen gefällt", sagt sie. "Der Fokus soll auf Gemeinsamkeiten liegen, anstatt auf Unterschiede."

Jule sagt, sie möchte zeigen, dass Occupy keine Spaßbewegung ist, die ihre Sachen packt, sobald es kalt wird. "Wir sind gekommen, um zu bleiben und um weiter zu gehen", sagt sie. Ganz besonders will sie das auch den Mitarbeitern der Europäischen Zentralbank zeigen, die aus dem EZB-Hochhaus auf sie herunter schauen.

Es ist 18 Uhr, neben Männern im Smoking und Statisten mit weiß geschminkten Gesichtern sitzt die Arbeitsgruppe-Presse an einem langen Kirschholztisch in der Kantine des Schauspielhauses, die die Aktivisten nutzen dürfen. Neun Mitglieder wollen eine neue Strategie besprechen. Die großen Erfolge von Occupy sind schon eine Weile her, das wissen sie. Jule setzt auf den Frühling, auf neue Aktionen aus dem Camp. "Das Camp ist so etwas wie das Symbol von Occupy", sagt sie. "Wie Wurzel von einem Baum, an dem immer mehr Äste heraus wachsen."

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