Orchideenfach Sexualpädagogik Kann man Sex studieren?
Harald Stumpe ist so eine Art Doktor Sommer, ein Hochschullehrer für Aufklärung. Schon vor über 20 Jahren hat er an der Uni Jena Medizinstudenten in Sexualerziehung ausgebildet. Stumpe selbst zog durch Schulen und Jugendclubs, um den sozialistischen Nachwuchs und dessen Eltern aufzuklären. Nach der Wende berief ihn die FH Merseburg für das Lehrgebiet Sozialmedizin, Stumpe baute den Thüringer Landesverband von Pro Familia auf und leitete die Erfurter Aids-Präventionsstelle.
Nebenbei betreibt der umtriebige Professor auch noch eine Online-Sexualberatung. Kein Wunder also, dass ausgerechnet Harald Stumpe zum letzten Wintersemester Deutschlands ersten und einzigen Studiengang für Sexualpädagogik und Familienplanung gründete.
Aber: Kann man Sex studieren?
Ja, sicher, sagt Stumpe, man soll ja nicht seine eigenen Gelüste im Rahmen des Lehrplans ausleben und pro 20 Kamasutra-Stellungen einen Schein bekommen. Die Studenten sollen vielmehr lernen, über Sex zu reden. "Der Bedarf an seriösen Informationen zum Thema Sexualität ist riesengroß, obwohl oder gerade weil die Jugendlichen heute überall damit konfrontiert werden", hat Stumpe festgestellt, "es fällt ihnen jedoch zunehmend schwerer, sich in dem Überangebot zu orientieren." Beratung und Begleitung seien daher heute viel nötiger als früher, meint der 51-jährige Sozialmediziner. Aber es fehlten qualifizierte Angebote zur Aus- und Weiterbildung von Sexualpädagogen.
An den Hochschulen wird das Thema Sex bislang eher mit spitzen Fingern angefasst und in Nischen gedrängt. Im Fach Sozialpädagogik oder in der Medizin gibt es vereinzelt Lehrveranstaltungen, einzig an der Uni Hamburg kann man das Fach "Sexualwissenschaft" im Nebenfach studieren. Mancher Univerwaltung ist die Aufklärungsarbeit im Fächerkanon nicht ganz geheuer, was durch Exzesse, wie sie neulich von einer kalifornischen Uni überlieferten wurden, nur bestätigt wird.
Selbsterfahrung auf La Palma: "Harte Arbeit"
Dabei sollte die Sexualerziehung nicht nur den Leserbrief-Doktoren der "Bravo" überlassen werden: "Es gibt immer noch zu viele Lehrer und Sozialarbeiter, die bei dem Thema einfach wegschauen", sagt Stumpe, "die Jugendlichen aber wünschen sich kompetente und unabhängige Gesprächspartner, mit denen sie sich über Liebe, Lust und Laster austauschen können."
Bislang 14 Studenten studieren das Fach seit dem letzten Semester an der FH Merseburg. Die späteren Profi-Aufklärer werden zunächst mit den sexualwissenschaftlichen Grundlagen aus Biologie, Psychologie und Medizin vertraut gemacht. Sie lernen die Regeln der Gruppenarbeit, Beratungsmethoden, Projektmanagement, altersspezifische Aufklärung. Und in einem Selbsterfahrungskurs auf der Kanaren-Insel La Palma sollen sie mehr über ihren eigenen Zugang zur Sexualität erfahren. "Das ist harte Arbeit", beeilt sich Harald Stumpe zu erklären - damit man auch ja nicht auf die Idee kommt, hier komme der Geschlechtsverkehr zu akademischen Ehren.
Der Studiengang wendet sich an Studenten, die bereits ein Studium in Sozialarbeit, Pädagogik, Lehramt, Soziologie, Medizin oder einem ähnlichen Fach absolviert haben und seit mindestens drei Jahren berufstätig sind. Für Fachkräfte mit Berufsabschluss und -erfahrung wird das Fach in verkürzter Form als Weiterbildung angeboten.
Wüste Gerüchte nach Kondom-Massenbestellung
Anfangs hätten seine Hochschulkollegen schon etwas sonderbar geschaut, wenn er von seinem Projekt erzählte, sagt Stumpe. "Wieso muss man so was studieren?", habe einer wissen wollen, ein anderer fragte gar: "Meinst du, das ist wichtig?" Und als er für eine Veranstaltung zur Aids-Prävention über die FH-Beschaffungsstelle mehrere hundert Kondome bestellte, kursierten "wilde Gerüchte und Phantasien an der Hochschule", erinnert sich Stumpe.
Auch die Studenten sind einige Lacher gewohnt. "Meine Freunde finden das Studium schon ziemlich lustig", erzählt Anja Rode, "aber es hat sie nicht überrascht, dass ich das studiere." Die 27-jährige Studentin mit der wilden, roten Mähne und den drei Piercings im Gesicht betreut schon seit eineinhalb Jahren Jugendliche an einer Leipziger Mittelschule und weiß mittlerweile mit deren Problemen mit Liebe und Freundschaft umzugehen.
"Man braucht schon eine lockere Art und darf nicht zu prüde sein, über Sex zu reden", sagt sie. Für die Jugendlichen sei das schließlich das wichtigste Thema. Aber auch Anja Rode hat festgestellt, dass die Jugendlichen heute gar nicht so überaufgeklärt sind, wie viele glauben. Im Gegenteil: "Die meisten wissen nicht mal, wie man ein Kondom benutzt."
Von Über-Aufklärung keine Spur
Arbeit für akademische Aufklärer gibt es also genug. Und die Einsatzbereiche sind vielfältig: Schulen, Jugendclubs, Heime, Beratungsstellen wie Pro Familia, auch Ärzte, Arzthelferinnen und Erzieherinnen werden immer häufiger mit Fragen zur Sexualität konfrontiert und können sich nun im "Sex-Studiengang" weiterbilden.
Ulrike Franck etwa arbeitet seit sechs Jahren am Hamburger Hauptbahnhof in der Übernachtungsstelle für Stricherjungen. Die Diplom-Sozialpädagogin macht schon jetzt viel Aufklärungsarbeit, überwiegend zum Thema Aids. Aber ihr fehle der theoretische Background, sagt sie, und auch die Methoden, wie sie mit den Jugendlichen am besten sprechen kann. "Ich möchte, dass Tabus abgebaut werden, und zwar möglichst früh und möglichst nah an der Realität", sagt die 31-Jährige.
Deshalb will sie auch ihr Studienprojekt mit den Jungen vom Strich machen: Ulrike Franck möchte die so genannte Peer-Education ausprobieren, sie will Jugendliche aus der Szene dazu ermuntern, andere Jugendliche in der Szene zu informieren und aufzuklären - auch das eine Art von Wissenstransfer.