Praktisches Jahr im Medizinstudium "Nur der depperte Hakenhalter"

Im Praktischen Jahr sollen angehende Ärzte ihr Handwerkszeug lernen. Doch die Praxis ist häufig ernüchternd: Die Medizinstudenten werden nur als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Besonders schlimm ist es in Unikliniken und in der Chirurgie.
Von Eva-Maria Hommel
Medizinstudenten in einem Operationssaal der Medizinischen Hochschule Hannover (Archivbild): "Für die meisten Oberärzte war man ein Schatten"

Medizinstudenten in einem Operationssaal der Medizinischen Hochschule Hannover (Archivbild): "Für die meisten Oberärzte war man ein Schatten"

Foto: Jochen Lübke/ dpa

Blut abnehmen, Verbände wechseln, im OP ein Bein halten. Das war beinahe alles, was Susanne Baumann* auf der unfallchirurgischen Station einer großen Uniklinik machen durfte. "Niemand war besonders erpicht darauf, dass ich etwas lerne", erinnert sich die 28-Jährige an ihr Praktisches Jahr (PJ). Während sie in der Anästhesie sogar Beatmungsschläuche legen durfte, habe sie sich bei den Chirurgen wie der "depperte Hakenhalter" gefühlt.

Das Praktische Jahr (PJ) ist die letzte Lernphase des Medizinstudiums. Vier Monate Chirurgie, vier Monate Innere, vier Monate auf einer Wunschstation. Danach sollen die Mediziner fit sein für die Praxis. Susanne Baumann aber sagt: "Wie viel man wirklich lernt, ist Glückssache."

Vielen ihrer Kommilitonen und angehenden Kollegen geht es ähnlich. Auf dem unabhängigen Portal www.pj-ranking.de haben Studenten seit 2007 mehr als 12.600 Stationen an deutschen Kliniken bewertet. Im Durchschnitt vergaben sie die Schulnote 2,0, den Unterricht im Praktischen Jahr bewerteten sie mit 2,4 und die Betreuung mit 2,1. Doch die Unterschiede zwischen den Fachrichtungen sind groß.

Besonders schlimm: Unikliniken und die Chirurgie

"Im Vergleich fallen überraschenderweise häufig Unikliniken und chirurgische Fachrichtungen negativ auf. Erstere möglicherweise, da sie zu viele Studierende betreuen müssen, letztere häufig aufgrund des rauen Umgangstones", sagt Tim Lütkens, ehemaliger Medizinstudent und Betreiber der Seite. Die schlimmsten Erfahrungsberichte lesen sich so: "Viele Aufgaben hatten nicht im Geringsten etwas mit medizinischer Ausbildung zu tun." Oder: "Für die meisten Oberärzte war man ein Schatten." Auch wegen solcher Berichte hält es die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland "für vordringlich, Lehre und Rahmenbedingungen im Praktischen Jahr zu verbessern", heißt es in einer Stellungnahme.

Für das PJ gibt es bislang kaum verbindliche Vorschriften. Doch das könnte sich jetzt ändern: "Der Druck, eine standardisierte Ausbildung anzubieten, ist deutlich gewachsen", sagt Heyo Kroemer, Vorstandssprecher des Medizinischen Fakultätentags (MFT) der 36 deutschen Medizin-Fakultäten.

Denn seit zwei Jahren sind die Studenten für das PJ nicht mehr an ihre Uniklinik oder ein Lehrkrankenhaus vor Ort gebunden, sondern können sich überall bewerben. Und nach dem Jahr müssen alle eine standardisierte mündlich-praktische Prüfung schaffen - deshalb werden gemeinsame Regeln für das PJ immer wichtiger. Kroemer rät den Fakultäten: "Wenn in einem Lehrkrankenhaus die Qualität der Ausbildung nicht gewährleistet ist, sollte eine Kündigung des Vertrags ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Dadurch entsteht ein erheblicher Druck, weil üblicherweise über die PJ-ler neue Assistenzärzte für die Häuser gewonnen werden können."

Medizinstudenten im PJ: "Das hätte auch schiefgehen können"
Foto: A3472 Frank May/ dpa

Denn sie dürfen oft nicht, was sie tun: Medizinstudenten im Lehrkrankenhaus müssen immer wieder Aufgaben erledigen, die ihre Fähigkeiten übersteigen. Vier angehende Ärzte berichten von grenzwertigen Einsätzen am Krankenbett. mehr...

Damit die Unis die Krankenhäuser besser beurteilen können, vergibt der Fakultätentag neuerdings ein Zertifikat. Gutachter prüfen dafür unter anderem, ob die Studenten an Konferenzen teilnehmen und eigene Fälle vorstellen dürfen. Doch bis jetzt haben erst fünf Krankenhäuser das sogenannte MFT-Zert bekommen. Die Kosten, bis zu 10.000 Euro, müssen sie selbst tragen. Auch deswegen hält sich die Begeisterung darüber in Grenzen: "Das bedeutet einen erheblichen Aufwand", sagt Peer Köpf, stellvertretender Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Ob sich das Gütesiegel durchsetzen wird, ist daher fraglich.

Klar ist: Den Kliniken fehlen Personal und Zeit, um die PJ-ler gut zu betreuen. Das ist das Hauptproblem. Doch die Unis könnten mit den Krankenhäusern wenigstens eine gewisse Struktur vereinbaren, mit festen Seminarzeiten und Betreuern, und das am besten verbindlich für ganz Deutschland.

Ein erster Schritt in diese Richtung könnte eine Vereinbarung mit dem sperrigen Namen Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog sein, den die Medizin-Fakultäten Anfang Juni beschlossen haben. In diesem Kerncurriculum steht, was Absolventen können sollen, von Fachwissen über Patientengespräche bis zum Selbstmanagement. Allerdings: Hält sich eine Fakultät nicht daran, gibt es keine Sanktionen.

Bleibt noch das Logbuch, das seit 2013 alle Hochschulen ihren PJ-lern geben müssen. Die Studenten notieren darin, was sie gemacht haben, Ärzte müssen unterschreiben. So soll das Lerntagebuch den Studenten helfen, eine strukturierte Ausbildung einzufordern. Doch die Praxis sieht anders aus. Jennifer Maler*, 32, steckt gerade mitten im PJ an einem Krankenhaus in einer mittelgroßen Stadt, Station Innere Medizin: "Ich habe einfach keine Zeit, das Logbuch ordentlich zu führen", sagt sie. Auch eine Umfrage der Uni Heidelberg zeigt, dass Tätigkeiten, die eingetragen werden, zum überwiegenden Teil gar nicht geleistet worden waren.

Vollzeitkräfte für 597 Euro

Logbuch, Lernzielkatalog, Klinikzertifikat - diese Reformversuche gehen der Bundesvertretung der Medizinstudierenden nicht weit genug. Sie will, dass sich grundsätzlich etwas ändert, zum Beispiel durch einen festen ärztlichen Betreuer pro Station und regelmäßiges Feedback. Fachärzte, nicht nur Assistenzärzte sollten für die Ausbildung mitverantwortlich sein, Routinetätigkeiten begrenzt werden. Und jede Woche solle es eine Fortbildung geben.

Dafür haben Studenten allerdings oft gar keine Zeit. Eine Umfrage unter 1500 PJ-lern hat gezeigt, dass sich 90 Prozent als Vollzeitkräfte empfanden - obwohl sie noch Studenten sind und maximal den Bafög-Höchstsatz von 597 Euro von den Kliniken bekommen. Jennifer Maler sagt: "Wenn der Arzt selbst nicht weiß, wie er fertig werden soll, kann er sich nicht auch noch mit mir beschäftigen."

*Namen von der Redaktion geändert.

Könnten Sie Medizin studieren?
Foto: Patrick Seeger/ dpa

Stifte raus, Medizinertest! Jahr für Jahr quälen sich Tausende Abiturienten durch eine Extraprüfung, um ihre Chance auf einen Medizinstudienplatz zu erhöhen. Geprüft werden Logik und räumliches Denken sowie Grundkenntnisse der Naturwissenschaften. Wie viel hätten sie gewusst? 

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