Star-Professor Reinhard Merkel Nichts für Lerner, was für Denker

1968 kraulte er bei Olympia, heute schwimmt der Strafrechtler Reinhard Merkel gern gegen den Meinungsstrom: Der Professor ist für Embryonen-Forschung und gegen medizinische Vollversorgung für alle. Wer seinen rasanten Vorlesungen folgen will, muss auf Uni-Denksport stehen.

Für den Hamburger Juristen Reinhard Merkel, 61, ist Jura ein erlesener Denksport. So gestaltet er auch seine Vorlesungen: rasant, elegant, kraftvoll.

Die Studentin mit den Perlenohrringen wird langsam böse. Die Vorlesung ist schon fast rum, und noch immer kein klares Ergebnis in Sicht. Ungeduldig richtet sie ihren Füllfederhalter auf das Blatt, wo in runder Kleinmädchenschrift "Einführung in das Strafrecht" steht. "Wann", zischt sie ihrer Kommilitonin zu, "kommt jetzt bitte endlich die Lösung?"

Zwei Stunden mit Reinhard Merkel sind nichts für Knobelfeinde. Der Jurist, ein drahtiger Mann in weißem Hemd und schwarzer Anzughose, läuft vor den zweihundert Studenten auf und ab. Er redet schnell, während er Schritt für Schritt den Beispielfall knackt. Es geht um eine Frau, die ihren reichen Mann zum Selbstmord überredet hat, weil sie an sein Vermögen will. Das ist gewiss niederträchtig, aber ist die Dame auch schuldig im Sinne des Strafrechts?

Für den Hamburger Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel ist Jura ein erlesener Denksport. Und so gestaltet er auch seine Vorlesungen: wie einen Work-out der Spitzenklasse, elegant, rasant, kraftvoll. Das ist selten. Oft geht es in den Rechtswissenschaften dröge zu, der Stoff wird durchgepaukt, ohne nach rechts und links zu blicken.

Die herrschende Meinung und wie man sie anders sehen kann

Für Merkel ist jeder Fall eine Ansammlung hochinteressanter Probleme, für die es ebenso faszinierende Lösungen gibt. Er lehrt freies Denken, indem er klarmacht, an welchen Punkten man sich auch anders entscheiden könnte. Die herrschende Meinung laute soundso, sagt er dann immer, aber es gebe auch wichtige Juristen, die das anders sähen.

Das macht seine Veranstaltungen für engagierte Studenten unterhaltsam. Denen geht es wie Fachschaftssprecher Jan Thöl, der kurz vor dem Examen steht. Er sagt: "Merkel hat mich für Jura begeistert. Ich habe bei ihm so viel gelernt wie bei fast keinem anderen."

Reinhard Merkel regt zum Nachdenken an, gern auch republikweit. Kaum ein anderer Rechtswissenschaftler mischt sich so häufig in öffentliche Debatten ein. Und das oft mit ausgefallenen Meinungen.

Während ganz Europa im Frühjahr vorigen Jahres den Nato-Truppen in Libyen die Daumen drückte, schrieb Merkel in der "Zeit" unter der Überschrift "Und nächste Woche Bomben auf Damaskus?", dass der Einsatz gegen geltendes Recht verstoße. Er plädiert für die Forschung an Embryonen und die Rationierung der Medizin nach klaren Kriterien - Standpunkte, die ethisch höchst umstritten, jedenfalls jenseits des Mainstreams sind.

Es kommt dann, zuverlässig, heftige Kritik, Blätterrauschen, Feuilletonzauber der Ethiker, Soziologen und sonstiger Feinde. Das ficht Merkel nicht an. "Ich bin", sagt er, "in meinen Ansichten renitent."

Black-Power-Fäuste von Mexico City: "Eine mutige Geste"

So war er nicht immer. Fürs Jurastudium hatte er sich entschieden, ganz brav, "weil mein Vater Rechtsanwalt war". Nach dem Examen widmete er sich der Philosophie, schrieb in Zeitschriften über Denker wie Peter Sloterdijk. Das brachte ihm eine Redakteursstelle bei der Wochenzeitung "Die Zeit" ein, wo er zwei Jahre blieb - bis ihn die Wissenschaft wieder in ihren Bann zog.

Merkel gehört zu den Menschen, die - ganz gleich, was sie tun - immer zu den Besten gehören. Mit 12 Jahren fing er an, regelmäßig zu schwimmen. Mit 14 kam er in die Jugendnationalmannschaft. Mit 18 Jahren startete er bei den Olympischen Spielen in Mexiko und wurde in seiner Disziplin Sechster.

Das war 1968. Ein hochpolitisches Jahr, Vietnam-Krieg, Studentenaufruhr überall, und auch der Sport blieb nicht unberührt von dem allgemeinen Aufbegehren: Bei der Siegerehrung reckten zwei US-Sportler ihre Fäuste zum Black-Power-Gruß, um gegen Rassendiskriminierung zu protestieren. Die meisten Olympia-Teilnehmer fanden das damals unpassend, auch der junge, auf den Sport konzentrierte Reinhard Merkel. Erst als bekannt wurde, welchen Ärger sich die Amerikaner damit eingehandelt hatten, änderte er seine Haltung: "Auf einmal dachte ich: Was für eine mutige Geste!"

Seine Studenten auf Krawall zu bürsten, angesichts von Euro-Krise, Energiewende, Quotendiskussion, das ist in jedem Fall ein Verdienst. Für die Frau mit den Perlenohrringen wird sich das Zuhören lohnen, irgendwann, das ist sicher. Wenn sie denken und nicht nur lernen will.

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