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Social Networks im Echttest 90 Nächte, 90 Betten

Wer verbirgt sich hinter einem Facebook-Profil? Christine Neder, 25, will es wissen. Drei Monate lang ist sie in Berlin und verbringt jede Nacht bei einem Fremden. Ihre Gastgeber findet sie in Social Networks - und lernt die Hauptstadt von einer ganz privaten Seite kennen.

Ich hatte es mir gerade mit dem Hippie Jonny in seiner Küche gemütlich gemacht, als Hansi einen herzzerreißenden Schrei ausstieß. Hansi lag im Sterben. Er schnappte hektisch nach Luft, um dann wieder kurz und laut zu schreien. Jonny und ich tranken Ökowein. Der WG-Vogel kauerte derweil am Boden seines Käfigs.

Facebook

Ich kannte Jonny nicht, bevor er mir die Tür aufmachte. Seit über 30 Tagen stehe ich jeden Abend vor der Wohnung von Fremden, von denen ich bis dahin nur ihr Profil auf oder der Couchsurfer-Seite gesehen habe. 90 Tage, 90 Nächte, 90 neue Bekanntschaften, das ist der Plan.

Ich will der Frage nachgehen: Welcher Mensch versteckt sich hinter einem Internetprofil? Ich möchte den Menschen in seiner Privatsphäre kennenlernen, das Profil mit der Wirklichkeit vergleichen und Sachen erleben, die über den reinen Internetkontakt nie möglich wären.

Fotostrecke

Bloggerin auf Tour: Jede Nacht ein neues Bett

Foto: Christine Neder

Dafür gebe ich meine eigene Privatsphäre völlig auf. Ich bin heimatlos, ständiger Gast ohne Rückzugsmöglichkeit. Ich lebe aus dem Koffer und verbringe jeden Moment in meinem Leben mit einem Fremden, der vielleicht zum Freund wird. Ein Erfahrungsbericht, der mich definitiv an meine persönlichen Grenzen bringt.

Hippie Jonny wohnt in einer Kommune in Schönefeld. Er ist geschätzte 55, trägt sein schwarz-silbernes Haar schulterlang und hat ein kleines Bäuchlein, das er unter einem labbrigen Baumwollhemd versteckt. In seinem Couchsurfing-Profil hatte er angegeben dass er relaxed, weltoffen and easy going ist. Stimmte alles. Vor Ort traf ich auf einen barfüßigen Vollöko, dessen Zebrafinke ohne Zukunft war.

Versiffte Studentenbuden und originale Zeichnungen von Walt Disney

Couchsurfing ist die beste Methode, um mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu treten, aber viele haben auch von meinem Experiment gehört und laden mich über Facebook zu sich nach Hause ein.

Schon nach der ersten Nacht dachte ich, dass ich das Ganze wegen körperlicher Erschöpfung abbrechen müsste: Sie endete in einem Saufgelage. Doch Alex, mein zweiter Gastgeber, hat mich am nächsten Abend mit Spinatnudeln wieder aufgepäppelt.

Überhaupt bin ich überrascht, wie luxuriös es sich leben lässt: Eine Nacht verbrachte ich in einer Traumwohnung in Berlin-Mitte. Es gab zwei Balkone mit weiß-braunen Rattanmöbeln, eine weitläufige Wohnküche, einen Kamin mit Holzvorrat, eine freistehende Marmorwanne im Badezimmer, eine halbe Bücherei in den Regalen, an den Wänden original Walt-Disney-Zeichnungen von Peter Pan und zwei wunderschöne Hauskatzen.

Ich habe mich auf versiffte, heruntergekommene Studentenwohnungen mit Schimmel im Bad und verkrusteten Herdplatten eingestellt und nicht auf ein Märchenschloss. Aber definitiv ist nicht alles so schön, und es läuft auch nicht alles immer so reibungslos.

Adventsstimmung im Spätsommer mit Annette

An einem Abend musste ich zweideutige Anspielungen von Franzosen ertragen, nach dem Motto wie "übsch" ich doch sei. Meine Antwort: Ich bin um 21 Uhr ins Bett gegangen. Ich habe herausgefunden, dass ein Couchsurfer, der angibt etwa 150 Schlafgäste im Jahr zu beherbergen, selbstgebaute Hochbetten im Flur stehen und Kuschelhöhlen in der Küche hat. Der Profisurfer ist abends nicht gerne alleine und liebt es, anderen die beste Döner-Bude in Berlin zu zeigen und den Laden, der das billigste Bier ausschenkt.

Prenzlauer Berg

Eine Station war ganz weihnachtlich: Ich habe mit Annette in einen Adventskalender für ihren Freund gebastelt. Sie hat ihren Freund beim Kriegsspiel World of Warcraft über das Internet kennengelernt. Aus Gewalt wurde Liebe. Sie sind seit drei Monaten ein Paar, Annette denkt schon mal ans erste gemeinsame Fest. Ich habe ihr geholfen, 24 Kistchen zu falten, und war noch nie Ende August so in Weihnachtsstimmung. Nur "Ihr Kinderlein kommet" hat im Hintergrund gefehlt. Und die Zimtsterne.

Kunststudent oder Projektmanager?

Neukölln oder Schöneberg?

Altbauwohnung oder Plattensiedlung?

Durchgeknallter Freak oder langweiliger Normalo?

Drecksbude oder Parkettboden?

Kreuzberg

Es bleibt spannend. Jeden Tag aufs Neue. Ich hoffe, endlich die 57-jährige Couchsurferin Ingrid in Mahlsdorf besuchen zu können - das erste Mal hat sie mich vergessen. Ich hatte aber Glück im Unglück und bin spontan bei einem anderen Couchsurfer in untergekommen. Ich stehe schon bei Meik auf der Gästeliste und werde wohl bei ihm im Van übernachten. Und einen Gastgeber wird mir ein Radiosender vermitteln. Wer weiß, wer das sein wird.

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