Streit um Schul-Vergleich Kultusminister attackieren "Mr. Pisa"
Für die 16 deutschen Kultusminister ist Andreas Schleicher ein alter Bekannter - einer, vom den sie nicht gern hören. Schleicher ist "Mr. Pisa". Als Chef der Abteilung für Indikatoren und Analysen bei der OECD in Paris leitet er die Pisa-Studien und legte sich in den letzten Jahren immer wieder mit deutschen Bildungspolitikern an.
Schleicher hat wiederholt für einen radikalen Umbau des Schulsystems plädiert, für eine Abschaffung der Traditions-Trias aus Gymnasium, Real- und Hauptschulen. In Deutschland ist das seit dem erbitterten Gesamtschul-Streit der siebziger und achtziger Jahre ein echtes Reizthema, an das niemand recht rühren möchte. Über den Verzicht auf Hauptschulen und die Einführung von Gemeinschaftsschulen wird durchaus diskutiert - nur der Schultyp Gymnasium blieb stets sakrosankt.
Aber nicht für Andreas Schleicher. Er ist streitlustig statt diplomatisch und hat sich nie zurückgehalten mit Kritik an der zerfaserten deutschen Bildungspolitik, den aus seiner Sicht zu geringen Bildungsinvestitionen und Reformanstrengungen, der frühen Selektion nach der Grundschule. Dafür wollen die Bildungspolitiker ihn jetzt bestrafen. Und haben einen willkommenen Anlass gefunden: Die Pisa-Ergebnisse sickerten früh durch, und Schleicher hat dazu Stellung genommen.
Die Pisa-Studien werden stets gehütet wie ein Staatsgeheimnis - bis zum offiziellen Veröffentlichungstermin darf niemand erfahren, welches Land wie gut abgeschnitten hat, wer die Auf- und Absteiger sind. Doch schon bei den letzten Studien wurden zentrale Informationen vorab bekannt. So auch diesmal: Erst am nächsten Dienstag stellt die OECD die Pisa-Resultate vor, am Mittwochabend nahm eine spanische Lehrerzeitung eine voluminöse Tabelle auf ihre Homepage.
Schon bei der frisch veröffentlichten Iglu-Studie sammelten die deutschen Grundschüler achtbare Ergebnisse ein, bei Pisa nun auch die Jugendlichen: Im Vergleichstest erreichten sie den 13. Platz - von diesmal 57 Teilnehmerländern. 2003 hatte Deutschland noch auf Platz 18 unter 40 Staaten gelegen. Die Naturwissenschaften sind erstmals Pisa-Schwerpunkt. Das gesamte Aufgabenspektrum war überarbeitet worden, vor allem Umweltwissen rückte in den Mittelpunkt - auch auf deutschen Wunsch. Bei den naturwissenschaftlichen Aufgaben holten die deutschen 15-Jährigen diesmal durchschnittlich 516 Punkte. Drei Jahre zuvor hatten sie 502 Punkte in den Naturwissenschaften, 503 Punkte in Mathematik und 491 Punkte beim Lesen.
Vergleichbar oder nicht?
Die Verbesserung gegenüber 2003 ist nicht spektakulär, aber klar erkennbar. Tatsächlich? Um die Interpretation der Pisa-Ergebnisse gibt es jetzt handfesten Streit. Die Kultusminister der unionsgeführten Länder verlangen gar den Rücktritt von Andreas Schleicher.
Am Mittwochabend betonte Schleicher auf Tagesschau.de, die jüngsten Ergebnisse bedeuteten keine Verbesserung Deutschlands, weil die Tests von 2003 und 2006 wegen ihrer geänderten Aufgabenstruktur nicht vergleichbar seien. Das jüngste Testverfahren habe bestimmte Stärken von deutschen Schülern begünstigt, so Schleicher weiter. Welche Stärken das sind, sagte er nicht.
Ähnlich äußerte sich auch Matthias Rumpf, Pressesprecher des Berlin Centre der OECD: Aus den neuen Ergebnissen der deutschen Schüler dürfe man nicht den Schluss einer Verbesserung ziehen. "In den vergangenen Jahren wurden Naturwissenschaften nur eingeschränkt abgeprüft", sagte Rumpf heute SPIEGEL ONLINE. "Diesmal waren die Tests umfangreicher. Den Schülern wurden Umweltwissensfragen und Fragen über naturwissenschaftliche Verfahren gestellt. Wegen der unterschiedlichen Aufgaben kann man die Testergebnisse von früher nicht mit den jetzigen Ergebnissen vergleichen."
Andreas Schleicher dämpfte den deutschen Jubel, blieb aber vage. Für eine Stellungnahme war er bisher nicht erreichbar. Die OECD indes schrieb heute Mittag in einer Presseerklärung, dass Deutschland "zum ersten Mal signifikant über dem OECD-Durchschnitt liegt". Im Bereich Naturwissenschaften sei zwar ein direkter Vergleich mit früheren Ergebnissen nicht möglich, da sich Schwerpunkt, Umfang und Struktur des Tests stark verändert hätten. Dennoch würden "einige Länder, darunter Deutschland und Österreich, deutlich besser abschneiden als bei früheren Studien". Und der deutsche Pisa-Koordinator Manfred Prenzel erklärte: "Das Rahmenkonzept der Studie hat sich nicht verändert."
Zu Schleichers nicht sehr konkreten Aussagen ist das ein klarer Widerspruch. Die Kultusminister attackieren den Pisa-Koordinator inzwischen frontal. Das begründen sie vor allem mit der Sperrfrist: "Wenn das OECD-Konsortium diejenigen mit hohen Konventionalstrafen bedroht, die vorab Informationen herausgeben, und dann ein OECD-Vertreter selbst mit Aussagen vorab an die Öffentlichkeit geht, ist das ein einmaliger Vorgang", so Karin Wolff, Sprecherin der CDU/CSU-Kultusminister.
Die Kultusminister sind "grob verärgert"
Wolff forderte, Schleicher müsse von seinen Aufgaben bei der OECD entbunden werden. Die Minister seien "grob verärgert" über die Vorabveröffentlichung und die Kommentierung durch Schleicher. Aus ideologischen Gründen könne er es wohl nicht ertragen, wenn Deutschland durch erhebliche pädagogische Reformen besser geworden sei und sich nicht auf das Gleis der Schulstrukturdebatte begeben habe, warf die hessische Kultusministerin Schleicher vor.
Auch Erich Thies, Generalsekretär der Kultusministerkonferenz (KMK), forderte rasche Konsequenzen von der OECD: "Dass Herr Schleicher vor Ablauf der Sperrfrist eine Bewertung der neuen Pisa-Studie vorgenommen hat, ist ein politischer Skandal." Schleichers Verhalten sei inkorrekt und schamlos.
Der Deutsche Lehrerverband reagierte ebenfalls empört. "Für den OECD-Mann Schleicher sind offenbar nur schlechte Ergebnisse gute Ergebnisse", so Verbandspräsident Josef Kraus. Im übrigen müsse sich die OECD fragen lassen, warum sie einen Test konstruiere, der über drei Jahre hinweg nicht vergleichbar sei. "Wenn das so wäre, dann hat die ganze Pisa-Testerei die Hälfte ihres Werts verloren", sagte Kraus. Der Lehrerverband jedenfalls habe das vorab verbreitete Ergebnis Deutschlands erfreut zur Kenntnis genommen.
Genervt von "Testeritis" und Kritikern
Der Deutsche Philologenverband wertete die Pisa- Ergebnisse als "sehr gute Nachricht" und "Beweis für die Innovationskraft und Reformfähigkeit" deutscher Schulen. Die Steigerungen von Pisa 2000 zu 2003 und nochmals zu 2006 bedeuteten einen sehr positiven Trend. Nach Ansicht des Verbandsvorsitzenden Heinz-Peter Meidinger strafen die neuen Ergebnisse all jene Lügen, die entweder das gegliederte Schulwesen für reformunfähig erklärten oder ein Versagen der weiterführenden Schularten behaupteten.
Die wütenden Attacken von Kultusministern und Lehrer-Funktionären machen klar, worum es im Kern wirklich geht: Nicht um das Vorpreschen Schleichers vor Ende des offiziellen Informations-Embargos - das wäre eine Petitesse, wenn der Pisa-Koordinator und die deutschen Bildungspolitiker sich ansonsten einig wären. Zudem äußern die Kultusminister selbst sich durchaus zu den Ergebnissen. Ihr Furor hat andere Gründe:
- Die Kultusminister haben seit Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie 2001 viel Prügel kassiert für das zunächst schlechte Abschneiden der deutschen Schüler. Jetzt sehen sie die Schulen endlich im Aufwind und wollen sich die Feierlaune nicht trüben lassen durch Relativierungen, die sie als ungebetene Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten empfinden. Ganz konsistent ist ihre Position nicht: Einerseits haben sie stets betont, dass die Schulreformen erst nach etlichen Jahren wirken können. Andererseits behaupten sie nunmehr, dass diese Reformen doch schon angeschlagen haben.
- Bildungspolitiker und Lehrervertreter haben das Genörgel am traditionell dreigliedrigen deutschen Schulsystem schlicht satt - und mit Andreas Schleicher noch eine Reihe alter Rechnungen offen. Aus ihrer Sicht ist er ein notorischer Quertreiber, ein selbstherrlicher Kritiker, der den Deutschen die Gesamtschule verordnen wolle.
Der Berliner OECD-Sprecher Matthias Rumpf bezeichnete die Vorwürfe gegen Schleicher und die Rücktrittsforderung als "völligen Unsinn". Nach der überraschenden Vor-Veröffentlichung eines Teils der Ergebnisse hätten sich die Vertreter der an Pisa beteiligten Länder darauf verständigt, die einsetzende Berichterstattung zumindest auf eine solide Basis zu stellen. "Das ist doch sehr verantwortungsvoll", sagte Rumpf SPIEGEL ONLINE.