
Architekten peppen Hannover auf: Nadelstiche für die graue Stadt
Studenten beim Guerilla-Training Akupunktur für die Architektur
Jaqueline Silva kniet sich hin. Sie befühlt noch einmal das Loch in der mit Graffiti übersäten Stahltür. Es ist kreisrund, sauber eingestanzt, praktischerweise unten am Boden. Dann verschwindet sie im Institut für Technische Verbrennung, einem verlotterten Funktionsbau nahe der Uni-Bibliothek in Hannovers Nordstadt - und Sekunden später strömen dicke weiße Nebelschwaden aus dem Loch.
Bald wabert ein diesiger Schleier hinüber in Richtung Campus. Es bildet sich eine kleine Menschentraube. Die Leute blicken besorgt nach oben. Ist es Gas? Brennt etwa die Bibliothek? Müssen sie sich in Sicherheit bringen?
Um Panik zu verhindern, hat Silva, 27, den Anwohnern tags zuvor Infozettel an die Haustür gepappt, mit Handynummer und Höflichkeitsfloskeln. "Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren und nicht die Feuerwehr zu rufen", steht da. Der Qualm aus dem Institut sei "weder giftig noch von einem Feuer hervorgerufen" - sondern stamme von einer Nebelmaschine.
Vor zehn Jahren beherbergte das Gebäude noch das größte Blockheizkraftwerk der Stadt, und der künstliche Sommernebel jetzt ist Jaquelines Prüfungsleistung. Er ist ihr Beitrag zum Studentenprojekt "Architektur-Guerilla" an der Leibniz-Universität, in dem anstelle abstrakter Bauvorhaben öffentliche Kunstaktionen umgesetzt werden.
Hauptseminar "mit bemerkenswert vielen Credit Points"
Wie eine Guerillera wirkt Jaqueline Silva nicht. Die Brasilianerin ist seit fünf Jahren in Deutschland, seit sechs Semestern Architekturstudentin und will sich mit niemandem anlegen - sondern nur einem "vergessenen Ort etwas Leben wiedergeben".
Die Stadt-Guerilla ist ein ungewöhnliches universitäres Hauptseminar, bei dem es freudigen Studenten zufolge "bemerkenswert viele Credit Points" gibt. An zwei Nachmittagen klappern Seminarleiterin Hilde Léon und zwei Mitarbeiter mit dem Fahrrad 20 Stationen in ganz Hannover ab und begutachten, was von den Aktionen der Studenten übrig bleibt. Denn keine ist von langer Dauer.
"Hast du das da reingemacht?", fragt Léon, kaum dass sie vom Rad gestiegen ist, und zeigt auf das Loch in der Tür, durch das der Rauch auf die Straße quillt. "Nein, aber es hat sein ganzes Leben auf meine Nebelmaschine gewartet", sagt Jaqueline. Léon ist angetan, sie lacht über das Metallschild "Verbrennungstechnisches Institut".
Genehmigungen einholen - manchmal auch nicht
In Hannover leitet die Professorin das Uni-Institut für Gebäudelehre, in Berlin ein Architekturbüro. Statt auf dröge Facharbeiten und Bauzeichnungen setzt ihr Guerilla-Kurs auf kurzfristige "Interventionen im Stadtraum". Versuchsanordnung: Konzept ausdenken, binnen zwei Wochen die nötigen Genehmigungen einholen (manchmal auch nicht), dann mit Farbeimer, Nebelmaschine oder was auch immer loslegen. Sie sollen ihre Ideen durch winzige Eingriffe in die Alltagslandschaft publikmachen, demonstrativ und angreifbar.
Léon fordert nichts Monumentales, keine Missstände anprangernden Skulpturen, nur eine wirkungsvolle Pointe mit geringem Aufwand. Die Teilnehmer sollten Orten und Unorten der Stadt eine ironische Spitze verpassen - "Akupunktur gewissermaßen", sagt Léon.
Für die meisten Studenten ist es die erste Annäherung an die städtebauliche Wirklichkeit; eine Ausnahmeveranstaltung, denn sonst basteln sie den ganzen Uni-Tag lang in Hörsälen an Modellen. Architektur entstehe aber nicht im abgeriegelten Raum, sagt die Dozentin. So viel sei zu bedenken bei Projekten, "Bedürfnisse, Finanzen, Vorschriften", und das sollen sie lernen.
Sie will ihre Studenten nicht zum Vandalismus anhalten. Provokation sei nicht das Seminarziel, sagt sie. Inhaltliche Vorgaben gibt es aber auch keine, nur draußen müssen die Aktionen stattfinden - und "kleine Niederlagen" gehörten dazu.
Weil die Aktionen "minimalinvasiv" sein sollen, wie die Studenten es ausdrücken, sind auch mal Passanten vom Effekt enttäuscht. "Was, war das schon alles?", fragt eine Anwohnerin die Nebelwerferin Jaqueline. Sie hatte sich die Schwaden "William-Turner-mäßiger" ausgemalt.
Die einzige Regel: der Regelverstoß
Viele seien gleich zu Beginn des Kurses wieder ausgestiegen, sagt Jaqueline. Einigen schien die Stadt Hannover nicht geeignet für urbanen Ungehorsam.
Doch in Wahrheit kommt es nicht auf den Ort an - der Regelverstoß ist die einzige Regel. Das kann auch Probleme geben. Vor allem für Studenten, die sich prominente oder gut geschützte Orte ausgesucht haben.
Eine Guerilla-Truppe will zwischen den Säulen am innerstädtischen Kröpcke-Platz eine Hängematte aufspannen und einen improvisierten unterirdischen Beachclub entstehen lassen. Der U-Bahnhof unter dem Platz ist notorisch unübersichtlich und derzeit eine lärmende, staubige Großbaustelle. Kaum hängt die blaue Matte, kommt der U-Bahn-Sicherheitsdienst und verscheucht das Grüppchen.
Drei Kommilitonen wagen sich an eine andere Institution der Stadt. Ohne Genehmigung wickeln sie pummelige "Nana"-Figuren in Frischhaltefolie ein und die umstehenden Bänke, Bäume, Mülleimer gleich dazu. Kaum sind die beiden um die Ecke verschwunden, wickelt die Stadtreinigung die dicken Statuen schon wieder aus.
So müssen die Dozenten auf ihrer Radtour eben sehen, was überhaupt noch zu sehen ist. Je heiliger "die Heiligtümer, desto wahrscheinlicher kommt jemand, um dich aufzuhalten", sagt Hilde Léon. Ihr gehe es um das richtige Maß an Öffentlichkeit, um "eine neue Lesbarkeit von Stadt, um das Kippmoment zwischen dem Alltäglichen und der Irritation".
Heute besetzen wir mal ein Heiligtum
Erst am frühen Abend schließen Hilde Léon und ihre Assistenten, alles Architekten aus Berlin, ihre Runde ab. Bei manchen Studenten sind sie nur kurz vorbeigerauscht, manche Aktionen waren schon nicht mehr da. Den Studenten macht die Flüchtigkeit nichts aus. Sie haben gelernt, damit umzugehen und zu spielen.
Wenige Tage später folgt die Abschlusspräsentation vor dem Architekturinstitut. Die Kursteilnehmer genießen Würstchen und Bier zu je einem Euro. Am Grill lässt Esref beim Würstchenwenden seine Interventionen Revue passieren. Aus 400 von einer Brauerei geliehenen leeren Bierkisten hat er ein halbdurchsichtiges Mauerwerk errichtet, mitten in den Herrenhäuser Gärten - und damit noch ein Hannoveraner Heiligtum benutzt.
Esref ist vor allem auf seine zweite Aktion stolz, ein Labyrinth aus selbstgemachten Fußabdrücken auf den Straßen rund um die Christuskirche. Drei Paar Schuhe hat er geopfert, unterstützt von einem Kollegen trat er einen ganzen Tag lang von einem Fuß auf den anderen: einen Schritt, Schuhsohle bepinseln, noch einen Schritt. "Natürlich haben wir wasserlösliche Farbe genommen. Damit es kein richtiger Vandalismus ist."