Studenten in Panik Feind in meinem Kopf
Als Martha Kreidler* im Herbst 2000 zum Politikstudium nach München zog, war sie 22 und voller Vorfreude: süßes Studentenleben im olympischen Dorf, der Englische Garten direkt vor dem Uni-Hauptgebäude, unzählige Bars und Biergärten, die es zu entdecken galt. Es hätte himmlisch werden können.
Es wurde die Hölle. Alles begann am Abend einer Studentenparty, Martha schminkte sich gerade vor dem Spiegel. Plötzlich wurde ihr schwindlig, ein Adrenalinstoß, Herzklopfen. Aus dem Nichts überfiel sie eine rasende Angst. In den nächsten Tagen sprang ihr Herz immer wieder in den Galopp.
Alles konnte nun Panik auslösen. Die riesige Universität, der belebte Marienplatz, überfüllte U-Bahnen - sie wurden zu No-Go-Areas. Zuletzt traute Martha sich nicht mehr, ihren Bungalow zu verlassen: Sie hatte Angst vor der Angst.
Jeder zehnte Deutsche leidet Umfragen zufolge unter krankhaften Angstzuständen. Iver Hand geht von einer hohen Dunkelziffer aus: "Mindestens 30 Prozent der Deutschen haben eine latente Angstbereitschaft", schätzt der Psychiater, der 1976 in Hamburg die erste deutsche Verhaltenstherapie-Ambulanz aufbaute. "Sie gehen aber nicht in Therapie, da die Beschwerden gerade noch erträglich sind." Sie ertragen die Angst. Aus Angst um ihren Ruf. Denn Angst gilt gemeinhin als Störfaktor, als Schwäche.
Ohne Krücken ging bald gar nicht mehr
In den meisten Angststatistiken tauchen Frauen öfter auf als Männer. Vielleicht auch, weil sie das Problem seltener überspielen und verstecken, offener damit umgehen. So wie Sabrina Erhardt*, 29. Auch die Braunschweiger Pädagogikstudentin war von Angstattacken in die eigenen vier Wände zurückgedrängt worden, zitternd, schwitzend, mit brummendem Schädel und hämmerndem Herzen.
Inzwischen ist Sabrina Lebensradius wieder größer. An einem sonnigen Donnerstagnachmittag sitzt sie im Studentencafé Eusebia unweit der TU Braunschweig und schildert die Geschichte ihrer Ängste. Oft fährt sie sich mit der Hand durch das schulterlange blonde Haar und lacht. Es ist ein fröhliches Lachen. Fast zehn Jahre lebt sie schon mit der Angst - es scheint, die beiden haben sich arrangiert.
Sabrinas Freiheitskampf hatte am Ende ihrer Schulzeit begonnen. Bei Klausuren war sie auf einmal nicht mehr nur nervös, sondern "klappte fast zusammen", so sehr habe ihr Körper verrückt gespielt. Bald ging ohne Krücken nichts mehr. "Krücken" - so nennt Sabrina die Hilfsmittel, mit denen sie sich anfangs noch in die Schule wagte. Das Handy etwa, mit dem ihre Mutter jederzeit erreichbar war, oder das bloße Wissen, dass ihr Bruder vor der Schule wartete. Bald half auch das nicht mehr. Die Angst trat Sabrinas Krücken weg, eine nach der anderen.
"Zum Psychiater, ich? Ich bin doch nicht durchgeknallt!"
Angst kann viele Gesichter haben. Über 300 Phobien listet der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer in seinem "Buch der Ängste" auf. Die hinterhältigste Form ist die "Phobophobie": die Angst vor der Angst, gleichsam Panik für Fortgeschrittene. Sie ist nirgendwo und überall. Wohin man auch flüchtet - sie ist schon da.
"Diese grundlose Panik, die aus heiterem Himmel kommt, das ist das Allerschlimmste", sagt Sabrina. "Wie soll man der Angst entkommen, wenn sie gar keinen Grund hat - und man das weiß?" Eine paradoxe, ausweglose Situation. Psychologen sprechen von einem "positiven Rückkoppelungsprozess": Durch bloße Erwartung der Angst gerät der Körper in Stress, man nimmt die physiologische Veränderung wahr, empfindet sie als bedrohlich. Das verstärkt die Symptome - und schon schaukelt sich die Panikattacke hoch.
Es wäre so einfach, aus dem Teufelskreis auszubrechen: Gar nicht erst Angst vor der ersten Angst aufkommen lassen! Doch in der Praxis frisst die Panik genau diesen Gedankenschritt als erstes auf. Und so wurde aus Sabrinas Kampf gegen die Angst eine quälende, aber auch überraschende Geschichte.
Das erste Kapitel erzählt von einer Ärzte-Odyssee. Hausarzt, Neurologe, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Internist - keiner weiß die Symptome richtig zu deuten. Ein Augenarzt ist es, der nach neun Leidensmonaten eine Angststörung diagnostiziert und Sabrina an einen Psychiater verweist. "Dass all das psychisch bedingt sein sollte, das konnte ich zuerst nicht akzeptieren", sagt sie. "Ich dachte: Ich spüre ja wirklich etwas. Ich bin doch nicht durchgeknallt!"
"Ich wollte am liebsten sterben" - Kampf gegen die Angst, ein katastrophales Comeback und ein Ausweg
Das zweite Kapitel beherbergt eine Einsicht: Angst kann sehr real sein, selbst wenn sie keinen realen Grund hat. Sabrina beginnt eine Konfrontationstherapie. Sie muss sich unter psychologischer Anleitung "Gefahrensituationen" aussetzen - Klassenzimmern, Kaufhäusern, belebten Einkaufsstraßen. Ihr Körper muss wieder lernen, an diesen Orten ohne Krücken zu bestehen. "Man glaubt gar nicht, wie viele Muskeln man anspannen kann", sagt Sabrina. "Das war eine heftige Methode - aber sie hat ziemlich schnell geholfen."
Das dritte Kapitel erzählt von einem katastrophalen Comeback. Nach einem halben Jahr kehrt die Angst zurück, so schnell, wie sie verschwunden war. Und diesmal bleibt die Konfrontationstherapie wirkungslos: "Ich wollte am liebsten sterben. Ein Leben war das sowieso nicht mehr." Schließlich verschreibt eine Ärztin Sabrina ein Antidepressivum. Es zügelt die Symptome immerhin so weit, dass sie ein Studium aufnehmen kann.
Wir sind so frei - der Fluch der Verantwortung
Als Ursachen solcher Angststörungen stehen verschiedene Faktoren unter Verdacht: Vererbung, traumatische Verlusterfahrungen, falsch erlerntes und verfestigtes Verhalten. Stresssituationen gelten als Angstauslöser par excellence. Doch bei jeder Angstkrankheit spielt eine Reihe individueller biologischer und psychologischer Faktoren zusammen.
Angstexperte Wolfgang Schmidbauer betreibt Forschung aus sozialpsychologischer Perspektive. Er diagnostiziert einen nie gekannten Leistungs- und Entscheidungsdruck: "Unsere Angstquellen liegen in der Option der Wahl und der Verantwortung für den Lebenslauf, die man nicht mehr delegieren kann." Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, kann der Segen der Entscheidungsfreiheit zum Verantwortungsfluch werden. Darum zeichnet Schmidbauer das Bild einer "Generation Angst".
Nach einem Bericht des Deutschen Studentenwerkes von 2007 leiden immer mehr Studierende unter dem Burn-out-Syndrom, inklusive Depressionen, Panikattacken, Versagensängste. Und die Techniker Krankenkasse ermittelte, dass es sich bei zehn Prozent der verschriebenen Medikamente für ihre studentischen Versicherten um Psychopharmaka handelt.
Sabrinas viertes Angst-Kapitel: Im Internet stößt sie auf Berichte von Menschen mit Schilddrüsenerkrankungen - und was sie da liest, kommt ihr seltsam bekannt vor: Niedergeschlagenheit, depressive Phasen, Angstattacken. Einige Arztbesuche später steht auch bei ihr eine neue Diagnose fest. Schilddrüsenentzündung. Sie bekommt eine Hormonbehandlung verschrieben. "Bald konnte ich wieder ohne mein Handy die Wohnung verlassen", schreibt sie im Erfahrungsbericht für ihren Therapeuten, "ich dachte, ich träume."
"Total bescheuert, die menschliche Psyche! Jetzt reicht's!"
Das letzte Kapitel steht Sabrina noch bevor: der Medikamentenentzug. Das Antidepressivum Paroxetin mache nicht abhängig, hatte die Ärztin gesagt. Was sie verschwieg: Manche Patienten leiden unter "Absetzsymptomen" wie stromschlagähnlichen Zuckungen, Schwäche- und Angstzuständen. "Schon das Reduzieren der Dosis war der Horror", sagt Sabrina. Vor der letzten Entzugsstufe graut ihr. Sie hat den Sommer dafür eingeplant. Anschließend will sie ihre Master-Arbeit in Pädagogik beginnen.
Inzwischen bereitet sich auch Martha in München auf ihren Abschluss in Politikwissenschaft vor. Das eine oder andere Semester hätte sie sich sparen können, "wäre nur diese dämliche Krankheit nicht gewesen". Wie Sabrina hatte Martha eine monatelange Ärzte-Odyssee durchgemacht. Auch sie bekam ein Antidepressivum verschrieben. Aus Abneigung gegen Tabletten setzte sie es mehrfach ab. Immer so lange, bis die Angst sich wieder in ihr Leben schlich: ein ermüdendes Auf und Ab, das kein Ende nehmen wollte.
Doch 2004, nach vier angstbeherrschten Jahren, packte Martha die Wut - ein befreiender Wutanfall, sie freut sich noch heute darüber: "Aus Angst vor Menschenansammlungen hab ich ein Konzert der Red Hot Chili Peppers verpasst. Da hab' ich mir gesagt: Total bescheuert, die menschliche Psyche! Jetzt reicht's!" Sie setzte das Antidepressivum ab, endgültig. Und lernte einige "ganz gute Mechanismen", mit denen sie den Angstkreisel abbremsen kann.
Der einfachste und effektivste dieser Mechanismen, erklärt Martha, sei ganz schlicht: sich nicht immer so ernst zu nehmen.
*Namen geändert