Studienabbrecher Herbert Feuerstein In die Karriere gewatscht
SPIEGEL ONLINE: Herr Feuerstein, hatten Sie ohne Studienabschluss je Probleme, eine Arbeit zu finden?
Feuerstein: Nein. Mein Leben ist völlig atypisch verlaufen. Ich musste mir nur ein einziges Mal einen Job suchen, im New York der sechziger Jahre. Da zählte ein Studium in Europa nichts. Es war hart. Ich hatte mir schon Nischen in Armenvierteln ausgesucht, wo ich in Ruhe verkommen wollte. Einfach dasitzen und warten, bis der Gefrier- oder Hungertod eintritt. Ich hatte die Wahl, für einen Musikalienhandel mit dem Fahrrad Noten zuzustellen oder für ein Reisebüro Handzettel zu verteilen.
SPIEGEL ONLINE: Sie landeten aber bei einer deutschsprachigen Zeitung.
Feuerstein: Durch einen Zufall, wie meistens im Leben, hörte ich von der Stelle und hatte Angst, sie nicht zu bekommen - da wurde ich unfair. Dem einzigen Mitbewerber machte ich das Journalistendasein so madig, dass er noch vor dem Vorstellungsgespräch ging. Außerdem protzte ich gern mit meiner Bildung, was keiner nachvollziehen konnte, wegen des Musikstudiums ohne Abschluss. Aber als ich den Job hatte, machte ich ihn zehn Jahre, schaffte es bis zum Chefredakteur und brauchte danach keinen akademischen Titel mehr.
SPIEGEL ONLINE: Als Studienabbrecher
Feuerstein: habe ich mich nie gesehen. Damals war ein Ausstieg legitim und möglich. Heute ist es auch noch legitim, aber es ist nicht mehr wirklich möglich, ohne Studium Karriere zu machen. Die Kriterien der Vorauswahl sind so enorm, dass man Chancen verpassen würde.
SPIEGEL ONLINE: Nennen wir es einfach unvollendetes Studium - wie lange dauerte Ihr Intermezzo als Musikstudent?
Feuerstein: So präzise kann ich das gar nicht sagen. Das Mozarteum in Salzburg war damals Hochschule und Musikschule. Ich war schon als 15-Jähriger eingeschrieben, parallel zur Oberschule. Man rutschte da so rein. Nach dem Abitur 1956 war ich weiterhin Mozarteumschüler und hätte bis zur Meisterprüfung weitermachen können.
SPIEGEL ONLINE: Dazu kam es nie. Wieso?
Feuerstein: Heute würde ich sagen, durch Weisheit, derer ich mir damals noch nicht bewusst war: der innere Drang, der Welt einen weiteren schlechten Musiker zu ersparen. Damals habe ich das anders gesehen, mit viel Frust. Im Studium schrieb ich schon für Zeitungen, auch Konzertkritiken. Die wurden mir zum Verhängnis, weil man nicht gleichzeitig Kritiker und Macher sein kann. Oft wird gesagt, Kritiker sind frustrierte Macher - ich kann das bestätigen. Ich habe schwer gesündigt gegen die Kritikerzunft, weil es mir damals wie heute immer nur um die Pointen ging. Ich hätte vielen Abbitte zu leisten, deshalb bin ich dankbar, dass die inzwischen tot sind.
SPIEGEL ONLINE: Auch den Hochschulpräsidenten haben Sie mit Ihrer spitzen Feder gepiekt
Feuerstein: Das war der eigentliche Grund fürs Studienende. Bernhard Paumgartner war in der Musik ein wichtiger Mann, ein Mozartforscher. Wie alle Musiker hatte er Ambitionen zu komponieren. Seine Oper mit Rossini-Elementen verriss ich natürlich. Kurz vorher schrieb ich über einen Kammermusikabend von Kollegen. Auf meine Weise, also bösartig. Die haben mich aufgesucht und dafür geohrfeigt. Es waren zwei Jungs und ein Mädel, das stand aber nur daneben und guckte ernst.
SPIEGEL ONLINE: Waren Sie schockiert oder amüsiert?
Feuerstein: In dem Augenblick tut das nicht weh, man nimmt das hin. Es wertet einen ja auf. Man kommt in die nächste Liga der für ihre Arbeit Geprügelten, der Märtyrer. Wenn ich so überlege, ist es eigentlich schade, dass sie nicht auf mich geschossen haben. Dann wäre ich gleich drei Stufen höher gestiegen.
Der Rausschmiss, die so verursachte Macke und ein weiser Rat an alle Studienabbrecher
SPIEGEL ONLINE: Präsidentenbeleidigung, Ohrfeigen - wann war das Maß voll?
Feuerstein: Zufällig hatte Karajan in Salzburg kurz zuvor einen Fotografen geohrfeigt. Ein riesiger Presseskandal. Ich ging nach meiner Ohrfeige zu meinem Redakteur, der machte gleich einen Beitrag mit der Schlagzeile "Da will schon jeder ein Karajan sein". Das katapultierte mich zum Wiener Boulevard - es hat mich also in die Journalistenkarriere geohrfeigt. Natürlich musste ich nach den öffentlich gemachten Hieben bei Hofrat Paumgartner vorsprechen. Dass Kritiker in der Musikakademie gewatscht werden, war nicht duldbar und zudem ein prima Vorwand. In seinem Büro lag dann auch mein Verriss seiner Oper - rot angestrichen. Er fand die Schläge nicht gut, hatte aber Verständnis dafür. Und er legte mir nahe, die Hochschule zu verlassen. Da bin ich eben gegangen.
SPIEGEL ONLINE: Widerstandslos?
Feuerstein: Mir war klar, dass mir damit eine Entscheidung abgenommen wurde. Innerlich hatte ich wohl schon einen Grund gesucht, das Fach zu wechseln. In der Musik wäre ich irgendwo in einer Sackgasse gelandet. Wahrscheinlich wäre ich heute Festspielpräsident von Salzburg oder Österreichs Kultusminister, also irgendwas ganz Furchtbares.
SPIEGEL ONLINE: Bedauern Sie heute das jähe Studienende?
Feuerstein: Es bleibt leicht traumatisiert und verursachte eine kleine Macke. Manchmal habe ich Alpträume von Konzerten mit einem großen Flügel, der Saal ist voll, ich kann nichts spielen. In einer Stadt wie Salzburg, wo jeder mit jedem über sechs Ecken verwandt ist und immer den gleichen Muff schnüffelt, kommt man Mozart automatisch nahe. Die Musik als Beruf zu wählen, war für mich zudem der Ausweg aus schwierigen Dingen, wie der schwer gestörten Beziehung zu meinen Eltern. Salzburg war keine Uni-Stadt, es gab nur das Priesterseminar und das Mozarteum. Papst wollte ich damals nicht werden. Heute tut mir das ein bisschen leid, weil ich den Job auch könnte.
SPIEGEL ONLINE: Plagten Sie nach dem Rauswurf Zukunftsängste?
Feuerstein: Die kamen erst später in New York. Von Salzburg ging ich zunächst nach Wien, habe ein Jahr lang an der Filmakademie herumlaboriert, viel für Zeitungen geschrieben, Kurzgeschichten, ein Theaterstück, das berühmte Roman-Fragment. Als künstlerischer Mensch waren ein, zwei Jahre kreativen Gammelns damals legitim. Heute stehen die Leute leider oft sehr früh unter Existenzdruck oder haben Angst, den Anschluss im Job zu verpassen.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Eltern haben das Lotterleben in Wien unterstützt?
Feuerstein: Ich wurde durchfinanziert und hätte so weitermachen können. Ich saß in den richtigen Cafés und fühlte mich genial, wie alle, die dort saßen. Doch der Weg wäre vorgezeichnet gewesen: Nach 20 Jahren des Darbens kriegt man einen Staatspreis, nach weiteren fünf eine Professur, dann einen Ehrentitel als Hofrat, noch einen Staatspreis und so weiter. Man wird leicht saturiert.
SPIEGEL ONLINE: Ihre beinahe einzige Chance auf einen späten Titel wäre ein Ehrendoktor. Gab's schon Angebote?
Feuerstein: Nein. Ich finde, eine Ehrendoktorwürde ist eine Grabbeigabe, wie der Preis für das Lebenswerk - eine einzige Peinlichkeit. Wenn schon ein Doktortitel, dann möchte ich mir den erarbeitet haben. Und nicht von jemandem geschenkt bekommen, den ich noch dazu vielleicht gar nicht mag.
SPIEGEL ONLINE: In einem Ihrer Bücher beneiden Sie einen Forscher um seine kleine Welt, in der er sich auskennt - klingt dann doch wie Wehmut über die verpasste akademische Karriere. Haben Sie schon mal mit dem Gedanken an ein Seniorenstudium gespielt, wie es an vielen Unis Mode ist?
Feuerstein: Ich bin kein Senior! Ich stecke irgendwo zwischen einem mentalen Alter von elf und längst tot. Und ich werde nie aufhören zu arbeiten, solange ich es körperlich kann. Auch weil ich nie in dem Sinn gearbeitet habe. Seit Jahrzehnten bin ich selbstständig. Da darf man nicht vermessen sein und das Arbeit nennen. Obwohl ich das Leben grundsätzlich negiere und als großes Unglück ansehe, konnte ich meist eigene Entscheidungen treffen. Auch während der "MAD"-Zeit. Ich habe mir die Freiheit bewahrt aufzuhören, wenn es langweilig wird. Ich bin immer noch infantil, meine Neugier ist unglaublich präsent. Deshalb wird mein Leben im Alter zunehmend hektischer, weil ich Angst habe, etwas zu verpassen.
SPIEGEL ONLINE: Bitte einen weisen Tipp an alle Studienabbrecher
Feuerstein: Geht wieder zurück an die Uni!
Das Interview führte Christian Werner