Studiengebühren Ein Schreckgespenst, das gar nicht schreckt?

Die Studiengebühren in Deutschland sterben aus - doch ein neues Diskussionspapier soll zu ihrer Ehrenrettung beitragen. Berliner Forscher zeigen darin, dass sich die Campusmaut nicht negativ auf den Studierwillen von Abiturienten auswirkt. Forscherkollegen sind skeptisch.
Anti-Gebühren-Kampf (2006): "War all die Aufregung umsonst?"

Anti-Gebühren-Kampf (2006): "War all die Aufregung umsonst?"

Foto: DDP

Studieren, ja oder nein? Rund eine halbe Million junger Menschen in Deutschland haben diese Frage 2011 mit Ja beantwortet - so viele wie noch nie. Die frohe Botschaft fällt in ein Jahr, das sich Studiengebühren-Gegner vermutlich rot im Kalender anstreichen werden.

2011 haben drei Landesparlamente die Studiengebühren abgeschafft, in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Baden-Württemberg. NRW zieht als erstes dieser Länder den Schlussstrich, ab diesem Wintersemester ist dort das Erststudium wieder gebührenfrei. Gebühreninseln sind nun noch Bayern und Niedersachsen.

Grundsatz für linke Bildungspolitiker war stets: Ein Erststudium darf keine Gebühren kosten. Argumente hierfür lieferten in den vergangen Jahren Studien, die nahe legten, dass der Obolus potentielle Hochschulbewerber abschreckt. Er hindere gerade die sozial Schwächeren, ein Studium aufzunehmen, die Ungleichheit im deutschen Bildungswesen werde beim Zugang zur Hochschule noch einmal verstärkt. Daraus folgte für SPD, Linke und meist auch Grüne: Gebühren sind ein Unding.

Nun veröffentlicht das renommierte Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)  ein Diskussionspapier, das den Gebührengegnern ein wichtiges Argument entreißen will. "Gebühren mindern Studierneigung nicht", hieß es am Montag in einem von den WZB-Forschern Marcel Helbig und Tina Baier veröffentlichten Artikel. Und das mitgelieferte Diskussionspapier fragt gleich auf der Titelseite: "War all die Aufregung umsonst?" 

Positive Erwartungen heben Zweifel auf

Die Studienneigung sei durch die Gebühren nicht zurückgegangen, "auch nicht bei Studienberechtigten aus nichtakademischem Elternhaus", lautet die markante Zusammenfassung der Autoren. Die Forscher haben dafür selbst keine Daten erhoben, sondern nahmen als Basis die Studienberechtigtenbefragungen des Hochschulinformationssystems (HIS). Hierfür befragt HIS Schulabgänger alle zwei bis drei Jahre, ob sie vorhaben, an einer Hochschule zu studieren.

Helbig und Baier verglichen die Zahlen aus Bundesländern mit und ohne Gebühren für insgesamt sechs Stichproben-Jahre zwischen 1999 und 2008. Als zeitlichen Wendepunkt nahmen die Berliner Forscher 2006 an - das Jahr, ab dem Studieninteressierte die zu erwartenden Studiengebühren in ihre Entscheidung erstmals mit einbeziehen konnten. Ergebnis der Rechenarbeit: In keiner Analyse habe es einen "signifikanten Rückgang der Studienneigung durch Studiengebühren gegeben" - weder über alle Gruppen hinweg, noch bei Abiturienten aus nichtakademischen Elternhäusern.

Der Kniff der Forscher: Sie machen eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf, die sie bei individuellen Bildungsentscheidungen als gegeben annehmen. Wird das Studium durch Gebühren teurer, erwarten sich die Studenten mehr Qualität von der Ausbildung und ein größeres Ansehen ihres Abschlusses. So wird der negative Faktor der höheren Kosten durch einen erwarteten besseren Ertrag als positivem Faktor ausgeglichen - und das besonders bei Nicht-Akademikerkindern, sagen Helbig und Baier.

Nur moderate Studiengebühren haben keinen negativen Effekt

Anders ausgedrückt: Wer erwarten muss, 1000 Euro im Jahr zu bezahlen, und glaubt, dass sich etwas an der Qualität der Ausbildung verbessern und ihr Wert steigen wird, lässt sich nicht abhalten. Die erwartete Verbesserung wegen des Preisschilds am Studium hebt den abschreckende Effekt der gestiegenen Kosten auf, lautet die Theorie. Das funktioniere jedenfalls bei moderaten Gebühren. Es dürfe jedoch "keinesfalls der Schluss gezogen werden, dass Studiengebühren per se keinen negativen Effekt auf die Studienneigung haben".

Forscherkollegen des HIS, die seit Jahren am gleichen Thema forschen, werfen die WZB-Autoren vor, unzureichende Zahlen verwendet oder falsch gefragt zu haben. Eine HIS-Studie, der zufolge sich 2006 mehrere Tausend Abiturienten wegen der Studiengebühren gegen ein Studium entschieden hätten, finden die Berliner Forscher "problematisch". Sie habe es den Befragten ermöglicht, ihren Studienverzicht im Nachhinein mit den Gebühren zu rechtfertigen.

Ein weitere HIS-Arbeit, die im Jahr 2009 anhand von Erstsemesterzahlen einen leicht negativen Effekt von Studiengebühren festgestellt hatte, habe Zivildienstleistende und Wehrpflichtige ausgeklammert. Außerdem seien diejenigen außer Acht gelassen worden, die keine ehrliche Studienabsicht hatten, sondern nur "Vergünstigungen in Verbindung mit dem Studierendenstatus" erzielen wollten - und sich dann wegen der Gebühren gegen ein Studium entschieden hätten.

Markus Lörz, Hochschulforscher des HIS, hegt Zweifel an den Erkenntnissen seiner Berliner Kollegen. Bei der erklärten Studienabsicht und ihrer Realisierung gebe es herkunftsspezifische Unterschiede. Helbig und Baier würden dazu lediglich schreiben, dass 95 Prozent der Zugangsberechtigten ihren Studienwunsch binnen dreieinhalb Jahren in die Tat umsetzten - auf die soziale Herkunft gingen sie hierbei nicht ein.

HIS-Forscher Lörz merkt außerdem an, es gebe einige offene Fragen, weil das Diskussionspapier aus Berlin nicht alle Daten und Gewichtungen offen lege. "Das heißt nicht, dass daran etwas nicht stimmt - aber es lässt sich eben nicht alles nachvollziehen." Lörz sagt, er habe beispielsweise Zweifel, ob man die Frage nach dem "Studiengebühreneffekt" anhand verschiedener Bundesländer beantworten könne. Ein "Ost-West-Effekt" etwa sei nicht auszuschließen, weil es gerade in den neuen Bundesländer keine Studiengebühren gegeben habe.

Unüblich sei die Bundesländer-Methode dennoch nicht: Der Forscher-Kollege Hans Dietrich vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung etwa nutze in einer aktuellen, noch unveröffentlichten Arbeit die gleiche Methodik wie Helbig und Baier, um Effekte von Studiengebühren zu untersuchen - nur käme er damit zu einem ganz anderen Ergebnis.

Mindestens eines zeigt das neue Diskussionspapier der Berliner Sozialforscher: Auch wenn die Gebühren bundesweit mehr und mehr verschwinden - die Debatte um ihre Wirkung auf Studenten und Studieninteressenten ist noch lange nicht vorbei.

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