Studienplatzvergabe Abiturienten droht Pannenzulassung

So viele Abiturienten wie nie gehen im Sommer auf Studienplatzsuche - und die dürfte chaotisch werden: Der Start einer Software, die die Wirren der Zulassung lindern soll, verzögert sich. Die zuständigen Informatiker sind überfordert.
Abiturienten: Nach der Prüfung ist vor der Studienplatzsuche - und die ist kompliziert

Abiturienten: Nach der Prüfung ist vor der Studienplatzsuche - und die ist kompliziert

Foto: DDP

Derzeit brüten Hunderttausende Oberstufenschüler über Vorbereitungstests fürs Abitur, lernen für eine gute Abschlussnote - und schaffen sie die Reifeprüfung, wird die Mehrzahl versuchen, einen Platz an einer Hochschule zu ergattern.

Das unwürdige Verfahren der Hochschulzulassung aber könnte dem einen oder anderen die Lust auf ein Studium wieder nehmen. Seit Jahren läuft das Suchen und Finden eines Studienplatzes chaotisch, kompliziert und ineffizient. Dem sollte ab diesem Jahr eigentlich eine neue Wunder-Software abhelfen. Zum Wintersemester sollten Studienplätze in Fächern, die mit einem lokalen Numerus clausus (NC) belegt sind, mittels bundesweitem Abgleich unter den teilnehmenden Hochschulen automatisch und mit kürzeren Wartezeiten vergeben werden. Weniger Plätze sollten frei, Mehrfachzusagen ausgeschlossen bleiben.

Ab Mitte April, wenn die ersten Schüler ihr Reifezeugnis in Händen halten und sich nach Studienplätzen umsehen, sollte das System funktionieren. Jetzt aber sei man "einen Monat im Verzug", sagt ein Sprecher der hochschulstart.de - Stiftung für Hochschulzulassung SPIEGEL ONLINE. In einer Pressemitteilung der Stiftung heißt es, es habe in einer ersten Textphase "Instabilitäten im Zusammenspiel aller Komponenten" gegeben.

"Wir sind noch nicht über den Berg"

Eine Anhörung im Bundestag am Mittwoch verstärkte den Verdacht, dass es mit dem neuen "dialogorientierten Serviceverfahren" nicht so läuft wie gehofft. Der für die technische Einführung zuständige Informatiker Stefan Jähnichen vom Berliner Fraunhofer-Institut warnte vor den Abgeordneten davor, trotz möglicher Fehler das neue System "mit aller Gewalt zum nächsten Wintersemester an den Start zu bringen".

Jähnichen zufolge ist auch der von hochschulstart.de genannte Termin Mitte Mai keineswegs fix. Die endgültige Entscheidung über Start oder Stopp soll erst am 28. April fallen. "Wir sind noch nicht über den Berg", sagte der Wissenschaftler. Die Zahl der Fehler bei den Tests sei größer als erwartet gewesen. Fraunhofer-Experte Jähnichen hatte schon früher vor zu großer Eile und einem zu ehrgeizigen Zeitplan bei der Einführung gewarnt.

Besonders heikel ist außerdem: Just 2011 könnte sich das Studienplatzvergabechaos durch doppelte Abiturientenjahrgänge und die Wehrpflichtaussetzung weiter zuspitzen. Seit der weitgehenden Entmachtung der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) regeln die meisten Hochschulen ihre Zulassung selbst und nach eigenen Kriterien: Die eine Uni gewichtet die Mathe-Note doppelt, die nächste will ein Motivationsschreiben, die Dritte einen Lebenslauf in englischer Sprache. Danach werden wild Zusagen verschickt, und weil sich die Interessenten in ihrer Not an zehn oder mehr Unis angemeldet haben, bleiben zum Semesterstart trotz strenger NC und Bewerbermassen vor den Toren Plätze frei. Zugleich machen in diesem Jahr so viele Schüler wie nie zuvor ihr Abitur. Hält die Software nicht was sie verspricht, wird es ein nervenaufreibender Sommer für alle Beteiligten.

Beim Software-Hersteller T-Systems gibt man sich aufgeräumt und schwer vom eigenen Produkt überzeugt. Das Programm sei das Herz des Verfahrens, und das sei tiptop in Ordnung. Es hapere aber in der Peripherie. "Die Software ist fertig und fehlerfrei", sagte T-Systems-Sprecherin Nicole Schmidt SPIEGEL ONLINE. Das Problem laut Telekom: "Weitere Projektteilnehmer haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht." Nach weit mehr als einem Jahr Verzug bei der Bereitstellung des LKW-Maut-Systems Toll Collect ist der Firma offenbar daran gelegen, nicht bei einem weiteren staatlichen Großauftrag schlecht auszusehen. Rund ein Drittel der 15 Millionen Euro an Steuermitteln für die neue Wunder-Software gehen schließlich an den Bonner Technologiekonzern.

Wer genau Schuld an der Verzögerung hat, will die Sprecherin nicht sagen - aber die Auswahl ist nicht besonders groß. Die Stiftung für Hochschulzulassung, Nachfolger der Dortmunder ZVS, bekam vom Bund den Auftrag, sich um ein neues, computerbasiertes Verfahren zu kümmern. Die Fraunhofer-Stiftung berät in deren Auftrag und legte in einem Pflichtenheft fest, wer sich um was zu kümmern hat. Um die Software und die Anbindung an die EDV der Hochschulen aber kümmerten sich T-Systems - und die Informatiker der Hochschul-Informationssystem GmbH (HIS) in Hannover.

HIS stellt für mehr als 200 Hochschulen in Deutschland Verwaltungssoftware bereit, zu günstigem Tarif und im öffentlich-rechtlichen Auftrag. Viele Hochschulen wickeln mit den Programmen des Marktführers auch ihre Zulassungsverfahren ab. Der Nutzer erkennt das mitunter nicht, die Seite ist dem Design der Hochschule angepasst - doch im Hintergrund rechnet und organisiert ein HIS-Programm.

Probleme beim größten Anbieter von Hochschul-Software?

Zur Frage, ob die Verfehlung bei HIS liege, und wenn nicht, wer Schuld am Verzug habe, wollte sich HIS auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE nicht äußern. Ein Sprecher verwies auf die Erklärung von hochschulstart.de und die dort genannten "Instabilitäten im Zusammenspiel der Komponenten".

Vier Bundesländer, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, haben bislang ihre Hochschulen auf das neue Verfahren verpflichtet. In den übrigen zwölf Ländern ist es den Hochschulen überlassen, ob sie teilnehmen. Die Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, Ulla Bruchardt (SPD), kritisierte, es sei unbefriedigend, "dass es keine wirkliche Dialogorientierung und keinen Beratungsservice" gebe. Außerdem bleibe offen, "wie rechtssicher das Verfahren ist oder ob es ein Einfallstor für Klagen werden wird".

Der SPD-Abgeordnete Swen Schulz äußerte "Sorge über die derzeitige Funktionalität" des neuen Verfahrens, seine Partei stehe aber weiter zu dem Vorhaben. Der Grünen-Abgeordnete und hochschulpolitische Sprecher der Fraktion, Kai Gehring, sagte: "Die gestrige Notbremse und Verschiebung der Light-Version zeigen, dass der fristgerechte Start des dialogorientierten Serviceverfahrens weiter fraglich bleibt." Er kritisierte insbesondere, dass Lehramtsstudiengänge vom Verfahren ausgeklammert bleiben.

Von Mitte März bis zum 15. April haben die Hochschulen nun Zeit, die Software auszuprobieren und die letzten Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Gelingt das wirklich, werden die Abiturienten es den Softwar-Herstellern und der Stiftung für Hochschulzulassung danken.

Mit Material von dpa
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