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Die erste Einstellung zeigt nur Augen. Augen wie die von Audrey Hepburn, das undurchdringliche Braun mit nachtdunkler Tusche umrahmt. Langsam löst sich der Blick von der Großaufnahme, und sichtbar wird die ganze zarte Figur - ein Oberteil, weiß wie Schnee, ein bodenlanger Rock, rot wie Blut, das Ebenholzhaar von einem goldgewirkten Netz gebändigt. Unwiderstehlich zwingt die junge Frau dann dem Betrachter ihre Perspektive auf, mit der sie, Person für Person, ihre Umgebung erfasst.
Die Totale zeigt einen tristen Raum. Junge Leute drängen sich um eine Schreibtischrunde, klemmen Stühle in Lücken, kauern vor lila lackierten Fensterrahmen. Was wird hier gespielt? "Campus II"? Eine neue deutsche Uni-Komödie? Warum hat sich diese Kreuzung aus Zigeunermädchen und Schneewittchen in so eine jeansuniforme Masse verirrt?
Hier wird kein Film gedreht, dies ist die Wirklichkeit in einem viel zu engen Seminarraum an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF). Schneewittchen heißt Alexandra Gulea, 29. Sie studiert gemeinsam mit 45 Kommilitonen seit Ende Oktober in der Abteilung "Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik".
Dozentin Dörrie lotst die Studenten "mit fliegendem Teppich auf eine ungewisse Reise"
Aus ihrer Heimat Rumänien brachte die schöne Alexandra ihre Leidenschaft für visuelle Künste mit und ihre Neigung für Gypsi-Outfits. In Bukarest studierte sie schon einmal Film, dann Malerei in Paris. Dort hörte sie von der bayerischen Kino-Elite-Uni, aus der zum Beispiel die Oscar-Anwärterin Caroline Link ("Jenseits der Stille") und Hollywood-Regisseur Roland Emmerich ("Independence Day") hervorgegangen sind.
Der rumänische Paradiesvogel passt in die Ausbildungsstätte, die sich traditionell weit mehr den schönen Künsten als der Wissenschaft verbunden fühlt. So fremdartig die osteuropäische Studentin erscheint, so genau trifft sie das Klischee vom ideellen Münchner HFF-Azubi: unangepasst, originell und schillernd wie die Branche zwischen Hollywood und der "Sendung mit der Maus".
Hier soll der Filmer noch Künstler sein. Hier sind Georg Feil, dem Leiter der Abteilung "Film und Fernsehspiel", "Karrieristen und stromliniengefönte Ehrgeizlinge ein Gräuel". Hier beschwört der Lehrkörper um Vizepräsident Wolfgang Längsfeld, der zu den Urvätern universitärer Filmausbildung gehört, fast vergessene Ideale wie das Studium generale. Und hier ist man stolz auf eine Selbstbeschreibung, die unter Betriebs-, Rechts- oder Naturwissenschaftlern als Beleidigung verstanden würde: "Biotop, Spielwiese, kreative Chaosschmiede".
Seltsam leistungsfremde Kategorien verwenden Professoren und ehemalige Studenten, um zu erklären, wieso ausgerechnet aus der einstigen Bettfedernfabrik im Münchner Arbeiterstadtteil Giesing immer wieder Filmschaffende von Godzilla-Format hervorgehen: "Wir wollten alle durchgedrehte Künstler sein", sagt Doris Dörrie, Absolventin von 1978.
So ein Ziel schafft offensichtlich corporate identity wie sonst sollte die in dem zweistöckigen Zweckbau entstehen? Asphaltgrauer Teppichfilz, mausgraue Schalenstühle, schmucklose Wände die Brutstatt des phantastischen Gewerbes präsentiert sich wie eine unscheinbare Hochschulbehörde. Auch das Vorlesungsverzeichnis, von "Filmgeschichte/Filmtheorie I" bis "Struktur der Film- und Videowirtschaft in Deutschland" verspricht auf den ersten Blick kaum mehr Action als irgendeine kunstferne Fakultät.
Die Kunst fängt im Kopf an. "Mit fliegendem Teppich auf eine ungewisse Reise lotst die von amerikanischen Lehrmethoden geprägte und inzwischen als Professorin für Dramaturgie und Stoffentwicklung an die Hochschule zurückgekehrte Dörrie in fast therapeutischen Klausuren ihre Schüler aus dem grauen Umfeld heraus in unwegsames Phantasiegelände. Lehrsätze wie "Begebt euch in Gefahr" und eine Eieruhr in Zitronenform leisten Orientierungshilfe, wenn die Aufgabe heißt: "Ich bin eine Haarspraydose" oder "Nacktes indisches Kind in einem Supermarkt" ein Selbsterfahrungsbericht in zehn Minuten.
KAPITAL UND KÖPFCHEN BRINGEN NUR ETWAS, WENN LEIDENSCHAFT UND EIGENSINN DAHINTER STEHEN
Ihr Teilzeitjob an der Hochschule ähnele eher dem »einer durchgeknallten Reiseleiterin« als einem ordentlichen Professor, meint die erfolgreiche Regisseurin eine für HFF-Verhältnisse ungewöhnliche Bescheidenheit. Studenten aller Altersklassen lieben die Lehrerin, die ihnen "alles zutraut" und nach dem Prinzip "Just do it" vorlebt, was andere nur predigen: dass Kapital und Köpfchen nur etwas bringen, wenn Leidenschaft und Eigensinn dahinter stehen.
Erst außerhalb des Stammhauses beginnt das Studium zu flimmern. Mindestens 16 000 Mark erhält jeder Student aus dem Hochschuletat, um davon bis zum Diplom drei Übungsfilme zu drehen. Mit Glück, Geschick und Schnorrerqualitäten bringen es manche Nachwuchsregisseure auf 100 000 Mark. Am Set irgendwo in und um München wuseln Crew und Kameras dann für höchstens 15 Minuten lange Streifen geradeso wie bei jeder Großproduktion: "Licht, Ton, Ruhe, Kamera ab und Klappe."
"Diese Hochschule hat etwas von einem Abenteuer an sich", begrüßte Gründungspräsident Otto B. Roegele 1967 die ersten 55 Studenten, darunter die späteren "Tatort"-Regisseure Hajo Gies und Hartmut Griesmayr und den zukünftigen Moderator Michael Schanze.
Auf Hochschulniveau sollte der Kino-Nachwuchs ausgebildet werden, um Anschluss zu finden an die glorreichen zwanziger Jahre, in denen Produzenten wie Erich Pommer und Regisseure wie Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau in Deutschland Kinogeschichte schrieben. Nachdem der Nationalsozialismus filmische Tradition durch totalitäre Propaganda zerstört und der cineastische Nachkriegs-Schmalz künstlerischen Ambitionen den Rest gegeben hatte, lagen alle Hoffnungen auf dem "Jungen deutschen Film", angeführt von Alexander Kluge und Volker Schlöndorff.
HIER WERDEN MIT DIE TEUERSTEN AKADEMIKER DEUTSCHLANDS AUSGEBILDET
Künstlerisch prägten die so genannten Sensibilisten wie Wim Wenders jahrelang den elitären Ruf der Schule. Berserker Rainer Werner Fassbinder lästerte, diese Kollegen verfilmten "ihre eigenen Kritiken". Und der spätere TV-Actionfilmer Dominik Graf ("Der Skorpion") fühlte sich als HFF-Student Mitte der siebziger Jahre amerikanischen Vorbildern wie Robert Altman bereits weitaus näher als "den Autorenfilmern, bei denen immer junge, ätherische Frauen im Fahrtwind auf Brücken stundenlang die Haare fliegen ließen".
Abenteuerlich erscheint es bis heute, für einen anarchischen Prozess wie das Filmemachen ein akademisches Ausbildungskonzept zu erfinden. Daher arbeiten der Freistaat Bayern, der Bayerische Rundfunk, das ZDF und die Stadt München seit Gründertagen gemeinsam an dem HFF-Modell. Doch weder das Kultusministerium noch hochdekorierte Regisseure oder Produzenten könnten sagen, welches Curriculum, welche Didaktik, wieviel Praxis oder Theorie geradewegs aus dem grünen Übungsdrehhaus an der Frankenthalerstraße in die Paramount-Studios führen.
Formal Genüge getan wird dem akademischen Anspruch durch das Pflichtfach Kommunikationswissenschaft unter Leitung des Medienforschers Karl Friedrich Reimers, in dem es laut Studieninformation 1999 "um zeitgerechtes Nachdenken geht" etwas präziser: um historische, sozial-psychologische und ethische Fragen von Multimedia.
Aber auch die geistreichste Vorlesung und das angesehenste Diplom lockt keinen Movie-Junkie aus dem Lichtspieltheater in die Universität. Constantin-Chef Bernd Eichinger, HFF-Abgänger von 1973, wusste nach einer Woche, "warum das grandios war: Die ließen uns sofort ans Gerät". Kameraführung, Lichteinsatz, Schnitttechniken hier werden die neben den Medizinern teuersten Akademiker Deutschlands ausgebildet; Kosten pro Student und Jahr gut 40 000 Mark. Was er dafür gelernt habe, fasst Produzent Eichinger ("Der Name der Rose") schlicht zusammen: "alles".
Einmütig schwärmen jene, deren Bilder dort laufen lernten, wie Caroline Link (Studentin 1986 bis 1993): "Ohne die HFF würde ich jetzt niemals die Filme drehen, wie ich sie drehen darf und kann." Beigesteuert zum Erfolg habe die Hochschule ein durchaus bodenständiges Prinzip, das etwa heiße: "Lerne erst mal das Handwerk. Das wird dich nicht hindern, ein Genie zu sein."
Warum aber wollen heutzutage überhaupt so viele Leute Filme machen? Warum steigen in München Jahr für Jahr die Bewerberzahlen, obwohl es auch in Köln, Hamburg, Berlin und Ludwigsburg Aufbaustudiengänge und eigenständige Hochschulen gibt? Ist es noch immer jene Berufung zu dieser Form der Kunst, die Fritz Lang einst zusammenfasste: "Einen, der zum Film will, können Sie nicht aufhalten"?
396 Anwärter stellten sich 1988 einem vierköpfigen Prüfungsgremium; im letzten Frühjahr waren es 660. Etwa 40 schaffen es Jahr für Jahr, einen Studienplatz zu bekommen.
"KAUM EINER HAT HIER ZEIT ODER LUST, ÜBER DREHBÜCHER ZU DISKUTIEREN"
Bei dem Aufnahmegespräch, radebrecht die gebürtige Rumänin Alexandra, habe ihr die Jury "wirklich sehr geholfen"; das durfte die Jury, denn Ausländer bringen Multi-Kulti-Flair. Da wird lieber mal auf Zulassungsvoraussetzungen wie Abitur und Alter (18 bis 30) verzichtet, die Studienordnung erlaubt ausdrücklich "Ausnahmen von den Voraussetzungen". Auch die acht Semester Regelstudienzeit nimmt hier keiner so genau: Wer sich aus dem mit zwölf Millionen Mark Jahresetat ausgestatteten Institut nur ungern in die raue Film-Wirklichkeit wagt, bringt es schon mal auf das Doppelte.
Die Bewerber müssen einen Entwurf für eine kleine Filmgeschichte einreichen. Das Thema ist vorgegeben, "Junge Familien am Rande der Stadt" beispielsweise, bilderreich erzählt, Videos und Fotoarbeiten sind willkommen.
Die Anziehung des Münchner Instituts setzt sich zusammen aus jenem undefinierbaren Charme, der jede Kunsthochschule verglichen mit einer technischen Universität umgibt, und aus dem Reiz eines Gewerbes, in dem mit Unterhaltung und bunten Bildern Ruhm und Millionen eingespielt werden. Doch diese beiden Kontrastprogramme belasten auch das Verhältnis zwischen Traditionalisten und Erneuerern.
"Individualisten mit Visionen" sucht Jury-Mitglied Georg Feil ein Bewerber-Profil, das ebenso gut von Bill Gates stammen könnte. Vielleicht sollte der Kölner TV-Produzent, den die Studenten als Modernisierer begrüßen, nach Idealisten suchen. Denn tatsächlich kommen die wenigsten, weil eine unsichtbare Kraft sie treibt, Geschichten zu erzählen. Die meisten fragen sich, sagt Doris Dörrie, "welche Themen das Publikum sehen will".
Das schafft ein prima Klima für Filmware Marke Massengeschmack. "Kaum jemand hat hier Zeit oder Lust, über Drehbücher zu diskutieren", sagt Studentensprecher Maurus vom Scheidt, 26. Alle wollen technisch möglichst perfekte Filme drehen. Kurz bevor die Gründergeneration um Vizepräsident Längsfeld ins Ruhestandsalter kommt, stellen sich die alten Richtungsfragen zwischen Kunst und Kommerz unter neuen Konkurrenzbedingungen.
MÜNCHEN LOCKT MIT ENGSTEN KONTAKTEN ZU DEN GRÖSSEN DES FILMGESCHÄFTS
Wer sich an dieser Schule bewirbt, weiß, warum. "Wir produzieren nicht für Festivals, sondern für den Markt", sagt Max Wiedemann, 21, Produktionsstudent im ersten Semester. Die Berliner Film- und Fernsehakademie gilt als künstlerisch anspruchsvoller, die Filmakademie Ludwigsburg als führend in Trick- und Animationstechniken; in den vergangenen drei Jahren ging der amerikanische Nachwuchs-Oscar jedes Mal an deutsche Jungfilmer, keiner der Preisträger kam aus der Talent-Werkstatt an der Isar.
München lockt mit engsten Kontakten zu den Größen des Filmgeschäfts. "Du hast vier Jahre, um auf dich aufmerksam zu machen", sagt vom Scheidt, Regiestudent im siebten Semester. "Wenn du das nicht schaffst, verschwindest du in der Versenkung und kannst Taxi fahren."
Was sie wollen und was nicht, unterscheidet die Anfänger kaum von ihren Vorbildern und Lehrern: "Kinofilme drehen. Nicht ins Fernsehen." Diejenigen von bisher 880 Absolventen, die das geschafft haben, kann Monika Lerch-Stumpf, Herausgeberin eines 1300-seitigen HFF-Führers, namentlich aufzählen: von Produzent Jakob Claussen über Regisseur Mika Kaurismäki bis zu "Superweib"- und "Campus"-Macher Sönke Wortmann. In Zahlen: 78 Prozent aller Ehemaligen schlagen sich mit Fernsehjobs durch, 10 Prozent arbeiten in der Werbung, 7 für Forschung und Lehre.
Da trösten auch anekdotische Karrieren wie die von Roland Emmerich nicht; der jobbte sich vom Praktikanten bei der Böblinger Solo Kleinmotoren GmbH ohne HFF-Diplom an den Sunset Boulevard. "Wir studierten uns vom Biertrinken und Flipperspielen langsam zum Filmedrehen", sagt Doris Dörrie.
Heute bereiten sich Studienanfänger eher nüchtern auf die Härten der Movie-Reality vor. Da ist kaum Raum für cineastische Experimente. Dörrie: "Die holen sich aus dem Internet alles über Sponsoren, Filmförderung und Finanzierungsstrategien."
Wer sechs, sieben Semester zwischen Anwesenheitspflicht, Geldverdienen und Filmprojekten hin- und hergehechelt ist, meint Studentensprecher vom Scheidt, wünsche sich, "dass hier die Visionäre mal die Lehrpläne und -methoden durchgehen". Immerhin gibt es seit kurzem die Abteilung PR- und Werbefilm und eine Extra-Ausbildung zum Kameramann.
Filmreife Erfolgsgeschichten werden auch künftig jenseits der Schule entstehen. Roland Emmerich durfte im letzten Sommer nachträglich sein Diplom ablegen mit Erfolg. Als Abschlussarbeit hat er wie üblich einen selbst gemachten Film eingereicht. Der Titel: "Independence Day".
BETTINA MUSALL