Studieren in Växjö Wir Studenten aus Bullerbü

Der Dozent heißt Anders, die Möbel kommen von Ikea, ein paar Pferde stehen auf der Koppel - in welchem Land kann die Uni Växjö schon sein? Natürlich in Schweden. Sie zählt zu Europas Uni-Perlen und wirkt, als hätte Astrid Lindgren die perfekte Hochschule erfunden.

Wenn Silke Grönke, 21, ihren derzeitigen Studienort charakterisieren soll, fällt ein Wort besonders häufig: "stressfrei". Normalerweise studiert Grönke Grund- und Hauptschullehramt in Heidelberg - das Neckar-Städtchen ist auch nicht gerade bekannt für Großstadthektik, anonymen Massenbetrieb. Doch die Beschaulichkeit lässt sich steigern - zum Beispiel in Växjö, Südschweden.

Gaststudentin Grönke besucht dort gerade ein Seminar zum Werk der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren. Växjö ist die einzige Universität, die sich eine Astrid-Lindgren-Gastprofessur leistet. Kein Wunder: Die Schauplätze der weltberühmten Geschichten liegen nicht weit entfernt, zum Beispiel Michels Heimatort Lönneberga oder die drei Höfe, die als Inspiration für den Klassiker "Wir Kinder aus Bullerbü" dienten.

Hätte Lindgren ein Studenten-Buch geschrieben, würde das idyllische Setting wahrscheinlich so aussehen wie der Campus hier in Växjö: Dreistöckige rote, gelbe und weiße Häuser mit sauberen Fluren und moderner Einrichtung reihen sich dort akkurat aneinander, die Gehwege sind gepflegt, der Rasen ordentlich gemäht. Zerstreuung findet man in Kneipen und Cafés, es gibt ein Fitness- und ein Sonnenstudio sowie eine Pferdekoppel, von der aus man Ausritte in die angrenzenden schwedischen Wälder unternehmen kann.

Willkommensgeschenk von Ikea

Rund 3000 der 15.000 Studenten in Växjö leben auf dem Campus, wenige Gehminuten von ihren Seminarräumen und der neu gebauten Bibliothek entfernt, darunter viele Gaststudenten. Schwedischkenntnisse sind kein Muss - ungefähr ein Drittel der Seminare werden auf Englisch angeboten.

Treffen Neuankömmlinge aus dem Ausland in Växjö ein, geht es gleich in den ersten Tagen mit einem von der Uni gemieteten Bus zu Ikea. Das Küchen-Starterset der blau-gelben Möbelkette erhält jeder Växjö-Frischling kostenlos als Willkommensgeschenk. Gemeinsames Kochen ist eine beliebte Abendbeschäftigung in den geräumigen Küchen der Studentenwohnheime, gerade im Winter, wenn es kaum richtig hell wird.

Der gute Service der Hochschulverwaltung hat sich herumgesprochen. Aus 40 Ländern kommen mittlerweile Austauschstudenten nach Växjö. Selbst für knifflige Fälle wie Anke Gollnow wird gesorgt: Bevor die Sozialökonomiestudentin aus Hamburg morgens zur Uni geht, bringt sie ihren Sohn Linus, sechs Jahre alt, in die Vorschule. Gollnows Freunde und Familie waren erstaunt, als sie ankündigte, mit ihrem Kind ins Ausland gehen zu wollen. "Die haben gedacht, ich hätte sie nicht mehr alle", erzählt sie.

Nur Maria Eriksson vom Internationalen Büro der Uni Växjö, ausgezeichnet als das beste schwedische Auslandsamt, sah darin kein Hindernis - sie suchte für Linus einen Schulplatz und für die Kleinfamilie eine passende Wohnung. "Kein Problem, das können wir organisieren", sei ihr von Anfang an signalisiert worden, berichtet Anke Gollnow. Wie andere Gaststudenten ist sie so begeistert, dass sie vielleicht für ihr ganzes restliches Studium in Schweden bleiben möchte. Auch hierzu hieß es von der Uni erst einmal: "kein Problem".

Hier wird rücksichtslos geduzt

Für das Wohlfühlambiente erwarten die Skandinavier aber arbeitswillige Studenten. "Jeder, der getreten werden muss, bis er etwas tut, ist hier falsch", sagt Martin Sonntag, 25-jähriger Politikstudent aus Leipzig. Erfolgreiches Arbeiten werde aber durch die durchdachte schwedische Studienstruktur erleichtert: Die meisten Studenten belegen pro Semester nur einen Kurs, der aus mehreren, vierwöchigen Modulen besteht. In jedem Modul finden Prüfungen statt, aus denen sich die Endnote zusammensetzt.

Das hält die Studenten zu kontinuierlichem Arbeiten an, dafür wird die Prüfungslast zu Semesterschluss verringert. "Wenn ich dauerhaft Leistung bringen muss, arbeite ich effizienter und entspannter, als wenn am Ende alle Prüfungen auf einmal hereinprasseln", sagt Sonntag.

Ungewohnt für deutsche Studenten sind die flachen Hierarchien in Schweden. Jeder duzt jeden, an den Türen der Dozenten stehen keine Titel. Sprechstundenlisten gibt es nicht, wer Gesprächsbedarf hat, klopft einfach an. Auch unter den Kommilitonen herrsche wenig Konkurrenzdenken und Selbstdarstellungsdrang, berichten die Gaststudenten.

In einer Arbeitsgruppe des Politikseminars "Friedens- und Entwicklungsforschung" brüten eine Französin, eine Deutsche, ein Engländer, ein Pakistaner und eine Schwedin über Fragen, die Dozent Anders Nilsson am Anfang der Stunde mit dem Hinweis verteilt hat: "Ihr könnt den Seminarraum verlassen, spazieren gehen, euch irgendwo hinsetzen - Hauptsache, ich finde euch."

Die Gruppe sitzt an einem der runden, hellen Holztische, die überall in den lichten Unigebäuden stehen und an denen pausiert, diskutiert oder kostenlos per W-LAN im Internet gesurft wird. Die fünfköpfige Arbeitsgruppe stockt, eine Fragestellung ist den Studenten nicht klar. Gemeinsam beschließen sie: "Let's ask Anders".

"Irgendjemand hat immer eine Palette Bier"

Als wäre es der Attraktionen für junge Leute noch immer nicht genug, wurde Växjö jüngst aufgrund des geringen CO2-Ausstoßes zur "Grünsten Stadt" Europas gekürt. Mit einem intelligenten Lichtsystem beteiligte sich die Uni an dem europaweiten Energiesparwettbewerb "Energy Trophy 2008". Wenn Studenten einen Seminarraum, Korridor oder eine Toilette betreten, geht das Licht automatisch an, sobald sie wieder hinausgehen, schaltet es sich wieder aus. So sparte die Uni innerhalb eines Jahres knapp 18 Prozent Energie ein.

Die Bildungsanstalt hat eine rasante Karriere hinter sich: Zunächst nur eine Außenstelle der renommierten Universität Lund, wurde sie im Rahmen der Hochschulreform in den siebziger Jahren eigenständig und 1999 schließlich zur Universität. Im kommenden Jahr fusioniert sie mit der Universität Kalmar, die 90 Autominuten entfernt im Osten liegt, dann heißt das Gebilde "Linnaeus Universität".

Für die Bachelor- und Masterstudiengänge werden keine Studiengebühren erhoben, nicht einmal Semestergebühren gibt es im Supersozialstaat Schweden. Einzig für die Bücher müssen die Studenten selbst aufkommen - es ist strengstens verboten, mehr als ein paar Seiten aus einem Buch zu kopieren.

Dafür kosten Lebensmittel etwas mehr, vor allem Alkohol. "Aber irgendjemand hat eigentlich immer eine Palette Bier", erzählt Tobias Schauerte. Er kam vor acht Jahren als BWL-Student aus Siegen nach Växjö, um seinen Lebenslauf durch ein Auslandssemester aufzupeppen. Mittlerweile hat der 34-Jährige zwei Masterabschlüsse hier gemacht, promoviert am Institut für Wald- und Holztechnik und ist selbst Dozent. Der entspannte Umgang mit den Dingen, die Arbeitsbedingungen, die Natur und die Liebe zu einer Schwedin haben ihn nicht wieder gehen lassen.

Auch Martin Sonntag zieht nach drei Monaten eine durchweg positive Bilanz: "Hier komme ich zur Ruhe und bin richtig ausgeglichen." Für ihn passe die Universität Växjö "wie die Faust aufs Auge" oder, wie das entsprechende Sprichwort bei den friedfertigen Schweden heißt, "wie die Hand in den Handschuh" - die Variante passt auch besser zu den Temperaturen.

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