
Studieren mit Fluch-Zwang: "Das ist wie ein Niesreiz"
Studieren mit Tourette-Syndrom Mit allen Tics
"Das ist wie ein Niesreiz im Gehirn", sagt Olaf Blumberg, wenn er sich erklären muss. Sich und seine seltsame Krankheit, die ihn zucken, sich selbst schlagen oder Schimpfwörter brüllen lässt, ohne dass er es will.
Ganz falsch ist der Vergleich nicht: Tics, so heißen diese plötzlichen Zuckungen und Äußerungen, sind tatsächlich ein bisschen wie Niesen. Es sind kurze, heftige Bewegungen und Lautäußerungen, die Olaf vielleicht kurz unterdrücken kann, aber die sich dann später umso heftiger wieder entladen. Ganz verhindern kann er sie nicht - es ist, als säße ein kleiner Kobold in ihm, der manchmal kurz die Kontrolle über seinen Körper übernimmt.
Olaf ist 23, als man bei ihm das Tourette-Syndrom diagnostiziert. Zu der Zeit ist er mitten im Studium, Sport und Germanistik auf Lehramt in Bochum. An der Uni ist der große, markante Typ mit den dunklen Locken, intelligent und eloquent, ein Frauenschwarm mit großem Freundeskreis. Zwar hatte er schon als Kind mit dem Kopf gezuckt oder den Zähnen geklappert. Doch niemandem fiel das groß auf. Nervosität, vermuteten seine Eltern, vielleicht zu viel Fernsehen.
Doch mit den Jahren werden seine Tics schlimmer. Plötzlich ist Olaf jemand, der beim Joggen bellt, gegen die Käsetheke spuckt und Wände ableckt. Er erkennt sich selbst nicht wieder: "Ich dachte wirklich, ich bin von einem Dämon besessen." Schließlich geht er zum Neurologen.
Längst nicht jeder ruft laut "Arschloch", so wie Olaf
Tourette, das zumindest weiß man heute über die rätselhafte Krankheit, wird vererbt. Doch längst nicht bei jedem, der die entsprechenden Gene in sich trägt, bricht die Krankheit auch aus. Woran das liegt und was dabei im Körper genau passiert, ist unklar. Wissenschaftler vermuten, dass der Stoffwechsel in einem Teil des Gehirns, den Basalganglien, gestört ist. Doch weder die Intelligenz noch die Leistungsfähigkeit sind durch das Tourette-Syndrom beeinträchtigt.
Kirsten Müller-Vahl, Professorin für experimentelle Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover, sagt: "Die Betroffenen wissen ganz genau, was verboten oder sozial unangemessen ist. Und trotzdem besteht der Drang, diese Dinge zu tun." Sie hat das Tourette-Syndrom seit Jahren erforscht.
Die Tics sind bei jedem Betroffenen unterschiedlich, längst nicht jeder ruft ständig "Fotze" oder "Arschloch", wie es bei Olaf vorkommt. Manche husten und blinzeln auch einfach nur häufiger. Verhaltensweisen, die oft als "schlechte Angewohnheit" abgetan werden. Deshalb vermuten Forscher auch, dass es in Deutschland weit mehr als die 40.000 Betroffenen gibt, von denen man bislang ausging.
Nach der Diagnose gibt Olaf sein Studium erst einmal auf. Lehramt mit Tourette? Davon rät man ihm ab. Auch im Studentenwohnheim gibt es Stress. Ein Mitbewohner fühlt sich vom ständigen Schreien und Stampfen gestört. Olaf kapituliert. Klinikaufenthalte folgen und der Versuch, die Krankheit mit Medikamenten ruhigzustellen. "Auf der einen Seite war es ja gut, dass das Kind endlich einen Namen hatte", sagt er. "Aber auf der anderen Seite dachte ich: Ein Leben mit dieser Krankheit? Den ständigen Tics? Und dann auch noch chronisch, ohne Chance auf Heilung? Oh Gott."
Die Beleidigungen sind nicht wahllos, sondern passgenau
Es ist die soziale Ausgrenzung, die Menschen mit Tourette-Syndrom mehr zu schaffen machen kann als ihre Tics. Nicht nur, weil sie angestarrt werden, sich dumme Sprüche anhören oder sogar mit Übergriffen rechnen müssen, wenn andere sich von ihrem Verhalten provoziert fühlen. Auch im privaten Umfeld ist Tourette nicht immer leicht zu ertragen. Denn manchmal scheint es, als ob sich der kleine Kobold im Inneren gezielt die Schwachstellen anderer aussucht, um ihnen richtig wehzutun.
"Aus unbestimmten Lauten werden Beleidigungen, aus Beleidigungen werden passgenaue Beleidigungen", sagt Olaf. Einmal ist ihm dabei sogar ein Geheimnis herausgerutscht. "Das war zwar nur einmal, und zum Glück waren wir dabei allein. Aber es hat mich trotzdem erschreckt." Erst wenn der anderen Person alles egal sei, sagt er, höre der Tic auf.
Während eines Klinikaufenthalts fängt Olaf an, seine Krankheit zu akzeptieren. Und in ihm reift der Wunsch, es doch noch einmal mit dem Studium zu versuchen. Er bewirbt sich für Soziale Arbeit, hofft, mit seinen eigenen Erfahrungen anderen helfen und Mut machen zu können. Schließlich bekommt er einen Studienplatz an der Katholischen Hochschule in Paderborn. "Da bin ich vor Freude in die Luft gesprungen."
Die Leute standen auf und klatschten
Seine Kommilitonen und Dozenten wissen von seinem Tourette, sein Studentenwohnheim hat dicke Wände, und Prüfungen darf er in einem separaten Raum schreiben. Nur die Bibliothek meidet er. "Ich lese sowieso am liebsten in Cafés", sagt er, grinst und zündet sich eine Zigarette an.
Heute ist Olaf 27. Leicht wird sein Leben nie sein, das weiß er. Nicht nur, weil er immer wieder sein Handy zerschmettert oder sein T-Shirt zerreißt. Erst im vergangenen Jahr hat ihn sein Tourette mit einem neuen Tic überrascht: sich den Finger ins Auge rammen. Mittlerweile sieht er auf der linken Seite fast nichts mehr. Auch das kann ein Symptom von Tourette sein. Doch Olaf kämpft weiter, beißt sich durch. Mitleid oder Bewunderung nerven ihn.
"Man muss die Arschbacken zusammenkneifen können. Die Angst zu erblinden zu überwinden", sagt er, "das war meine größte Leistung. Ich lebe nun einfach im Hier und Jetzt." Sport gibt ihm dabei Kraft, er schreibt Gedichte, und auch seine Freunde sind für ihn da. Sein bester ist Priester.
Für eine Prüfung in Medizin musste Olaf vor kurzem eine Kurzgeschichte verfassen. Er schrieb über das Tourette-Syndrom. "Am Ende", sagt er dann, "sind die Leute aufgestanden und haben geklatscht."