
Schwerhörig an der Uni Psst, ich will studieren!
Ohne ihre Hörgeräte würde sie weder Türklingel noch Handy hören, von der Stadt nur ein Brummen mitkriegen und vom Zwitschern der Amseln gar nichts. Die Studentin Marie*, 24, ist seit ihrer Geburt auf dem linken Ohr hochgradig schwerhörig und auf dem rechten fast taub.
Wenn sie keine Behinderung hätte, würde Marie vielleicht Geschichte studieren. Doch sie fürchtete, als Schwerhörige in einem so überlaufenen Fach nicht klarzukommen. Also entschied sie sich für ein Nischenfach: Archäologie der Römischen Provinzen. Sie ist im achten Semester an der Universität Köln. Der Grad ihrer Behinderung liegt bei 80 Prozent.
"Ich denke, vielen behinderten Studenten geht es ähnlich", sagt Marie. "Sie werden dazu bewegt, etwas anderes zu studieren, als sie ursprünglich wollten - einfach weil es praktischer ist." Für Marie waren zum Beispiel kleine Kurse und ein möglichst guter Draht zu den Dozenten wichtig.
Je lauter es im Hörsaal ist, desto schlechter kann sie dem Professor folgen. "Ich verstehe nur etwa die Hälfte einer Vorlesung, die andere Hälfte muss ich mir im Kontext denken", sagt sie. Sie muss ihrem Gegenüber ins Gesicht sehen, um sich einen Sinn aus Wortfetzen, Lippenbewegungen und Gesichtsausdruck erschließen zu können.
Auch die teuren Hörgeräte nützten nichts
Das ist mühsam und kostet Zeit. Wenn sie länger als eine halbe Stunde am Stück zuhören muss, verlässt Marie die Konzentration. Und in der Vorlesung eines Professors mit rheinischem Dialekt halfen ihr auch die teuren Hörgeräte mit digitaler Rauschunterdrückung nicht. Deswegen schreibt Marie, wann immer es geht, bei Kommilitonen ab. Sie könnte sich so manche Vorlesung sparen und nur die Mitschriften studieren. Doch im Bachelor-Studium darf sie nicht mehr als dreimal fehlen.
Karl-Josef Faßbender, 58, ist Koordinator für die Belange der Studenten mit Behinderung an der Uni Köln, er weiß, dass die Bedürfnisse behinderter Studenten im Hochschulbetrieb oft zu kurz kommen. Mit der Umstellung auf Bachelor und Master sei der Leistungsdruck gestiegen, mehr Studenten suchten seither bei ihm Hilfe. Früher sei das anders gewesen, sagt er, da hätten Studenten sich bei Schwierigkeiten einfach die Zeit zum Studieren genommen, die sie brauchten.
Auch dass die Hörsäle und Korridore vieler Universitäten noch voller sind als sonst, weil im vergangenen Jahr erstmals mehr als 500.000 Studienanfänger an die Hochschulen strömten, macht das Campusleben für behinderte Studenten anstrengender. "Je überfüllter die Hörsäle, Seminare und Fakultäten, desto größer die Gefahr für Menschen mit besonderen Bedürfnissen unterzugehen", sagt Viktoria Przytulla vom Kompetenzzentrum Behinderung, akademische Bildung, Beruf (kombabb) in Bonn, wo behinderte und chronisch kranke Studenten beraten werden. Wenn Vorlesungen etwa in andere Räume verlegt werden, könnten seh- und hörbehinderte oder autistische Studenten die Orientierung verlieren.
"Man muss sich ein Stück weit öffnen"
Laut dem Deutschen Studentenwerk (DSW) haben acht Prozent aller Studenten eine Behinderung. Sie sind zum Beispiel körperlich eingeschränkt, chronisch oder psychisch krank. "Den meisten Studenten sieht man die gesundheitliche Beeinträchtigung nicht an", sagt Christine Fromme, beim DSW zuständig für den Bereich Studieren mit Behinderung. Sie müssten sich selbst öffnen und auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen, sagt sie, damit Nachteile ausgeglichen werden könnten. Viele Studenten brauchen etwa mehr Zeit in Prüfungen oder eine bessere Betreuung.
Auch Marie merkt man ihre Schwerhörigkeit kaum an. Sie musste sich überwinden, zu ihrem Handicap zu stehen. Seit etwa drei Jahren tut sie das - und stößt auf mehr Verständnis. "Für mich ist das besser, sonst gelte ich als doof", sagt sie. Doch gelegentlich fällt es ihr noch schwer, offen mit ihrer Behinderung umzugehen: Ihren richtigen Namen möchte sie lieber nicht veröffentlicht sehen.
Einmal musste sie ein Referat zur Kultur des römischen Alltags halten. Ihr Thema: römische Fischsoßen. "Fermentierte Fischinnereien setzen Proteine frei und fangen an zu stinken", erklärt Marie. Die Kommilitonen fanden die römische Würze cool, doch der Dozent wirkte distanziert. Marie habe mit gelangweilter, fast herablassender Stimme vorgetragen, sagte er. "Ich kann selbst nicht beurteilen, wie ich klinge", erklärte die Studentin. Nach dem Gespräch mit dem Dozenten bekam sie die volle Punktzahl.
"Besser ich verstehe nicht alles, als dass ich nerve"
Das Hörsaalgebäude, in dem auch die Sprach- und Kulturwissenschaften untergebracht sind, wird derzeit saniert, in der Vorhalle dröhnen die Bohrer. "Der Baulärm ist fies", sagt Marie. Noch dazu springt in einigen Hörsälen alle halbe Stunde die Belüftungsanlage für zehn Minuten an. Und die Ventilatoren brummen ausgerechnet in der Frequenz, die sie gut hören kann.
Doch sie möchte nicht ständig mit Sonderwünschen auffallen. "Besser ich verstehe nicht alles, als dass die Leute von mir genervt sind." Zuflucht vor dem Krach in der Uni sucht sie in einem Café unweit des Archäologischen Instituts. "Ich arrangiere das so, dass ich mit den engsten Kommilitonen allein bin", sagt Marie. In dieser Gruppe kann sie nachfragen, bis sie das meiste verstanden hat.
Trost findet Marie auch bei den Römern. "Fortes fortuna adiuvet", zitiert sie ein lateinisches Sprichwort, "den Tapferen hilft das Glück". Wer sich nicht selbst hilft, wer nichts wagt, der wird auch nicht gewinnen. Wenn sie sich nicht mit römischen Vasen oder Versen beschäftigt, entspannt sie sich in ihrer Wohnung in Duisburg. Dann liest sie, malt oder schaut Filme mit Untertiteln. Manchmal geht sie in die Disco oder zum Bowling. In kleinen Gruppen, zu viert, höchstens.
*Name von der Redaktion geändert