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Studieren mit Behinderung: Endstation Brandschutztür

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Studentin mit Muskelschwund Lieber Pony als Einhorn

Sie kann nicht einmal mehr aus eigener Kraft sitzen: Marie-Louise Pfaue leidet an Muskelschwund. Trotzdem studiert die 24-Jährige in Bielefeld - und ärgert sich über Brandschutztüren und kaputte Aufzüge.

In ihren Träumen sitzt Marie-Louise Pfaue nicht im Rollstuhl. Sie klettert auf Bäume oder spielt Fußball und es stimmt sie nicht traurig, anderen Menschen beim Tanzen zuzuschauen. Wenn sie aufwacht, fühlt es sich wieder so an, als würden Gewichte ihre Arme und Beine nach unten ziehen. Sie sind so schwer, dass Pfaue nicht dagegen ankommt.

Die 24-Jährige leidet an Muskelschwund. Nach und nach gehen Nervenzellen in ihrem Rückenmark kaputt, die Impulse an die Muskeln weiterleiten. Pfaue kann fast nichts ohne Hilfe. Sie kann sich nicht im Bett umdrehen, sich keine Jacke zumachen, nicht allein sitzen.

Trotzdem hat sie Kraft, um zu studieren. Sie macht gerade ihren Master in Medienwissenschaften an der Universität Bielefeld - auf einem Campus aus den Siebzigerjahren, wo sie die meisten Türen nicht allein öffnen und oft nicht allein Aufzug fahren kann, weil sie die Knöpfe nicht erreicht.

IM VIDEO: Marie-Louise Pfaue erzählt von Hürden im Studium

Heike Klovert

Pfaue sagt: "Ich habe ein Ziel, und das spornt mich an." Sie will später Kinderbücher schreiben oder illustrieren oder eine Kindersendung moderieren. "Ich möchte etwas Eigenes haben", sagt sie mit leiser Stimme.

Es gibt keine genauen Zahlen dazu, wie viele Menschen mit Behinderung in Deutschland studieren. Laut Deutschem Studentenwerk haben knapp zwei Prozent aller Studenten eine gesundheitliche Einschränkung, die ihr Studium stark oder sehr stark erschwert. Die Behinderungen sind aber höchst unterschiedlich - und die Daten beruhen auf freiwilliger Selbstauskunft.

Behutsam setzt Felix Vogt eine Strickmütze auf Pfaues Kopf. "Welche Jacke willst du anziehen?" Der 24-Jährige ist an diesem Nachmittag als ihr Assistent eingeteilt. Er greift von vorn durch Pfaues Ärmel nach ihrer schmalen Hand und legt ihr die Jacke um den Rücken, schließt den Reißverschluss. Dann rollt sie hinaus in den Nieselregen, er läuft neben ihr her.

"Bis 80 ist jetzt alles offen"

Pfaue kommt aus dem Erzgebirge, sie wuchs in Zschorlau an der Grenze zu Tschechien auf. Ihre Eltern merkten, dass etwas nicht stimmt, als sie nicht krabbeln lernte. Die Diagnose: spinale Muskelatrophie, Typ 1. Die damalige Prognose: Lebenserwartung höchstens drei Jahre.

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Studieren mit Behinderung: Endstation Brandschutztür

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Die Diagnose war nicht ganz richtig. Vermutlich hat sie den milderen Typ 2 oder 3 oder etwas dazwischen. Sie weiß es nicht und es ist ihr auch nicht wichtig. "Bis 80 ist jetzt alles offen", sagt Pfaue.

An ihrer Krankheit leiden bundesweit nur etwa 1500 Menschen. Pfaue hat Assistenten, die sich um sie kümmern, tags und nachts, die sie mit einem Lifter aus dem Rollstuhl heben oder sie wie ein Baby auf die Arme nehmen, die sie nachts wenden, damit sie sich nicht wundliegt.

Anfangs war es ungewohnt für Felix Vogt, mit Pfaue auf die Toilette zu gehen oder sie zu duschen. Sie sind befreundet und gleich alt. "Man möchte aus Respekt eine gewisse Distanz wahren", sagt der schlaksige Mann. "Doch das geht halt nicht."

Pfaues Krankheit ist wie eine Uhr, die tickt, doch niemand weiß, wie schnell. Mit sieben Jahren konnte sie nicht mehr aus dem Rollstuhl herausrobben, mit elf konnte sie die Oberarme nicht mehr anheben, mit zwölf konnte sie nicht mehr selbst sitzen, mit 14 konnte sie die Räder ihres Rollis nicht mehr anschieben.

Türen und Aufzüge oft kaputt

"Was weg ist, ist weg", sagt Pfaue lakonisch. Sie habe gelernt, sich damit abzufinden, dass sie nicht mehr mit den Zehen wackeln und kein hartes Brot mehr kauen kann. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem sie ein Beatmungsgerät braucht. "Ich hoffe, dass er noch weit weg ist."

Felix Vogt schiebt Pfaues Rollstuhl in die Straßenbahn, die zur Universität fährt. Er passt auf, dass sich ihre Vorderräder nicht zwischen Zug und Bahnsteig verkanten. Er hebt für sie Geld ab, weil sie nicht nah genug an den Automaten heranfahren kann. Er öffnet Brandschutztüren und drückt auf Aufzugknöpfe, die zu hoch montiert sind.

Die Hochschule sagt, es gebe viele Angebote und Erleichterungen für behinderte Studenten. Doch das Hauptgebäude sei 47 Jahre alt und nach alten Standards gebaut. "Die Barrierefreiheit ist ganz sicher nicht optimal", räumt eine Sprecherin ein. Man sei dabei, das Gebäude zu modernisieren.

Auf der Homepage der Uni findet sich ein Plan mit automatischen Türen und behindertengerechten Aufzügen . Pfaue sagt, die Türschalter und Aufzüge seien oft kaputt.

Sie hat schon immer Hilfe benötigt, es mache ihr nichts aus, sagt sie. Meistens jedenfalls. Manche Dinge würde Pfaue gern selbst können. "Fensterputzen", sagt sie und lächelt spitzbübisch. "Ich will ja nicht kritteln, aber es kann nicht gut sein, wenn es von Anfang an schmiert und man dann verzweifelt versucht, mit der Flitsche alles nach unten zu ziehen."

Doch lieber ein dickes Pony

14 Assistenten betreuen Pfaue im Schichtbetrieb, den der Verein "Rückenwind"  koordiniert. Pfaue hat gelernt, ihre Bedürfnisse unverblümt zu kommunizieren. "Wenn ich Durst hab, hab ich Durst", sagt sie. Manchmal möchte sie auch allein sein. "Dann schicke ich die Assistenten in ihr Zimmer."

Für Miete und Lebenshaltung kommt sie selbst auf, mit Bafög und Unterstützung der Eltern. Pfaues Freund sitzt auch im Rollstuhl, er hat dieselbe Krankheit und wohnt in der Nähe. "Wenn wir uns küssen wollen, müssen wir gut umparken", sagt sie.

Mehr Intimität ist auch möglich. Pfaue und ihr Freund brauchen dafür bisher keine Hilfe. Wenn es doch einmal so kommen sollte, gibt es Sexualassistenten, die behinderte Menschen unterstützen.

Obwohl der Alltag mühsam ist, mag sie ihr Leben. "Rollstuhlfahren macht unheimlich Spaß", sagt Pfaue scherzhaft und wird dann ernst: "Ich bekomme auch schnell Kontakt zu Menschen, weil ich im Rollstuhl sitze."

Der Kontakt ist nicht immer angenehm. Manche Menschen tätscheln Pfaue über den Kopf oder lächeln sie so an, dass sie es als penetrant empfindet. "Warum reagieren die Leute so seltsam, wenn jemand im Rollstuhl sitzt?", fragt ihr Assistent Vogt. Wenn dann wirklich mal Hilfe nötig sei, schauten sie häufig weg.

Es gibt aber auch viele gute Begegnungen. "Einen meiner besten Freunde habe ich kennengelernt, weil ich ihn versehentlich umgefahren habe", erzählt Pfaue lächelnd.

Wenn alles gut läuft, wird sie noch dieses Jahr fertig mit dem Studium. Ein Hörbuch für Kinder hat Pfaue mit zwei Kommilitonen schon verfasst. Es handelt von einem dicken Pony, das aus einem Zirkus ausreißt, weil es ein Einhorn werden möchte. Unterwegs lernt es, dass Einhörner Hörner tragen, weil sie Sünden begangen haben. Da bleibt es doch lieber ein dickes Pony.

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