
Gothic-Tanzkurs: Schwarz ist Standard
Tanzkurs für die schwarze Szene Eins, zwei, Gothictanz
"Und: eins, zwei, drei, Cha-Cha-Cha, zwei, drei, Cha-Cha-Cha, zwei, drei, Cha-Cha-Cha..." Eine Tanzschule in Leverkusen, es ist Samstag, früher Abend. Die Tanzlehrerin zählt und macht die Schritte vor, ihre Tanzschüler zählen und machen die Schritte nach, die Musik ist gerade aus.
Der DJ am Pult wartet auf sein Zeichen. Die Tanzlehrerin schaut zu ihm hoch und nickt - und aus den Boxen knallt Synthie-Pop der schwarzen Berliner EBMler "And One" - nicht gerade das, was man in einer Tanzschule erwartet ( Song anhören? ). Aber es ist ja auch nicht irgendeine Tanzschule. Sondern die Leverkusener Discothek "Shadow" mit einem ganz besonderen Tanzkurs: dem "Gothic Paartanz!"
Ann-Christin Swertz, die Tanzlehrerin, dreht ihren Kopf wieder zur Tanzfläche. Ihre Augen sind katzenhaft geschminkt, dunkle Kleopatra-Lidstriche ziehen sich von ihren beiden äußeren Augenwinkeln jeweils bis zu den Schläfen. Ihr Oberkörper steckt in einem schwarzen Träger-Top, die Beine in schwarzen Hot-Pants und roten, zerrissenen Netzstrumpfhosen.
Ann-Christin Swertz ist 21 Jahre alt, Chemie-Studentin aus Wuppertal. Als Lehrerin für klassischen Standard assistiert sie dem Erfinder des "Gothic Paartanz": einem 34-jährigen Musikwissenschaftler, der heute auch im "Shadow" ist und sich unter seinem Künstlernamen Victor Nurus vorstellt.
Gotisch-Standard - Tanzmusik der schwarzen Szene
Victor trägt ein schwarzes Netz-Shirt über der nackten Brust, New Rock Boots an den Füßen und tiefschwarzen Kajal um die Augen. Ann-Christin und Victor sind wohl die schrillsten Tanzlehrer, die man je gesehen hat, und sie passen heute perfekt in die Discothek "Shadow", mitten in der Leverkusener Fußgängerzone gelegen: Vierzehn gruftige Pärchen sind etliche Treppenstufen in die Kultdisco hinabgestiegen und drehen sich jetzt auf der Tanzfläche. Die Decke ist mit dunkelgrünen Tarnnetzen verhangen, auf den Holztischen rund um die Tanzfläche flackern rote Grablichter und brennende Kerzen betropfen in verschnörkelten Eisenhaltern kunstvoll Wände und Boden.
"Standardtanz ist eine Bereicherung - gerade für die schwarze Szene"
Im Oktober 2010 hat das "Shadow" den "Gothic Paartanz" zum ersten Mal angeboten. "Standard kann man immer tanzen, man muss den Takt nur heraushören", sagt Jasmin, 25, Konditorin. Zusammen mit Lukas, einem 22-jährigen Physikstudenten aus Wuppertal, komplettiert Jasmin das Team der Szene-Tanzlehrer. Im Gegensatz zu Ann-Christin Swertz wollen Jasmin und Lukas aber ihre vollen Namen nicht nennen; zu groß ist ihre Angst vor der Berührungsangst der Gesellschaft, die immer noch so sehr vor dem düsteren Ambiente der Gothics zurückschreckt.
Warum, zum Henker, beschäftigt sich diese umstrittene Szene nun ausgerechnet mit Standard-Tanz - ist das nicht der totale Widerspruch?
Nein, ist es nicht, sagt Tanzlehrer Victor Nurus. "Standardtanz schafft Respekt und Vertrauen zwischen den Tanzpartnern, er schärft die Koordination in Bezug auf Schrittabfolgen und verbessert das ganze Körpergefühl. Standardtanz ist eine Bereicherung - auch oder gerade für die schwarze Szene." Da ein junger Gothic, der gerne Standardtanz lernen möchte, sich in einer normalen Tanzschule aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wohl fühle, habe er keine Chance, die Schritte zu lernen. "Also wollen wir den Jugendlichen helfen".
Jule, 16, findet das super. Die Schülerin geht in die elfte Klasse des Berufskollegs Kartäuserwall in Köln, auch sie will ihren vollen Namen nicht nennen, auch sie fürchtet Vorurteile. Dabei: "Ich wollte schon immer Standard lernen", sagt sie - nicht, weil Mama und Papa sie dazu verdonnern, "sondern weil man das für später immer gut gebrauchen kann". Aber wie sollte sie an die Schritte rankommen? In eine gewöhnliche Tanzschule würde sich Jule mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln und der pinkfarbenen Strähne im blonden Haar nicht trauen, "das ist da halt nicht so locker". Beim "Gothic Paartanz" empfindet sie das anders.
Sie wollten mit dem Angebot keinen Graben aufreißen, sagt die Lehrerin
Melina Onnebrink, 18, dreizehnte Klasse, Gesamtschule Leverkusen-Schlebusch, war ebenfalls "schon immer interessiert an den klassischen Tänzen, aber eine normale Tanzschule ist mir einfach zu teuer - und meine Eltern bezahlen mir das nicht". Der "Gothic Paartanz", den die schwarzen Tanzlehrer im "Shadow" anbieten, hingegen ist kostenlos. Sie wollen mit ihrem Angebot aber keinen neuen Graben aufreißen, unterstreicht Tanzlehrerin Jasmin, "das geht nicht gegen die üblichen Tanzschulen. Wir wollen einfach nur eine Alternative bieten für Jugendliche, die Musik abseits der gängigen Charts hören".
So wie Simon Probst, 27, Informatik-Student aus Düsseldorf. Zusammen mit seiner Freundin Sarah Füsgen, einer 24-jährigen Lehramtsstudentin für Musik und Deutsch an der Folkwang-Hochschule Essen, belegt Simon Turniertanz an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Der Student hört gerne schwarze Bands wie VNV Nation, Suicide Commando und Combichrist. Er findet: "Standardtanz und Schwarz, das passt, für Jugendliche aus der Szene ist das ein tolles Angebot. Und was man hier lernt, reicht, damit man sich auf der Tanzfläche bei einer größeren Familienfeier nicht mehr verloren fühlt!"
Den Eindruck machen die jungen Tänzer im mittlerweile gut aufgeheizten "Shadow" keine Sekunde. Um 17.30 Uhr hat hier der Anfängerkurs begonnen, der Fortgeschrittenenkurs folgt nach neunzig Minuten. Nurus und sein Team haben zurzeit Rumba, Samba, Cha-Cha-Cha, Jive und Discofox auf dem Lehrplan, diese Tänze harmonieren am besten mit den oft harten Rhythmen der schwarzen Musik, sagen sie.
Rote, blaue, grüne Scheinwerfer blitzen, an der Decke dreht sich eine schimmernde Discokugel, gerade stampft "Fed Up" durch die schummrige Luft, Elektro-Industrial der Band "Hocico". "Die Dame braucht den Gegendruck, es muss in den Armen ein gewisser Strom sein", hat Lehrer Victor vorhin noch beim Discofox erklärt, den seine Schüler jetzt tanzen. Jens, 16, zwölfte Klasse am "Berufskolleg des Zweck-Verbandes" in Opladen, findet den Anfängerkurs so cool, dass er gleich auch noch zu den Fortgeschrittenen bleibt. Warum auch nicht? "Man tanzt zu der Musik, die man mag, da lernt man ganz schnell - denn man lernt mit Spaß!"