Hohe Abbrecherquote im Mathe-Studium "Wir Professoren sind schuld"

Zahlen, Formeln, Formen: Viele Studenten fühlen sich von Mathe überfordert
Foto: CorbisSPIEGEL ONLINE: Herr Törner, rund 57.000 junge Menschen studieren Mathematik in Deutschland. Sie zeigen in einer Studie, dass vier von fünf im Laufe ihres Studiums hinschmeißen. Was ist da los?
Törner: Die Untersuchung von mir und Miriam Dieter zeigt, dass die meisten im ersten Studienjahr abbrechen beziehungsweise das Fach wechseln. Frauen werfen das Handtuch häufiger und schneller als Männer, das mag allerdings auch an der weiblichen Entscheidungsfreudigkeit liegen. Insgesamt schließen jedenfalls nur 20 Prozent das Mathematik-Studium tatsächlich ab.
SPIEGEL ONLINE: Mathematiker haben sehr gute Aussichten auf dem Arbeitsmarkt, Absolventen werden dringend gesucht. Warum brechen so viele ab?
Törner: Viele haben Leistungsprobleme. Das hat auch Auswirkungen auf andere Fächer, denn Mathematik ist in Ingenieurswissenschaften und in der Betriebswirtschaft ein Indikatorfach, also ein Härtetest. Wer Mathe überlebt, packt auch die anderen Fächer.
SPIEGEL ONLINE: An den Universitäten wird geklagt: Das Niveau an den Schulen sinke, der Stoff werde nur noch lückenhaft vermittelt, die Verkürzung der Gymnasialzeit fordere ihren Tribut. Was fehlt den Studienanfängern?

Prominente Studienabbrecher: Es gibt ein Leben nach der Uni
Törner: Die Schulen bereiten inhaltlich unterschiedlich intensiv auf das Studium vor. Darüber zu schimpfen ändert nichts. Die Abiturienten wissen heute nicht weniger als frühere Generationen. Sicherlich könnten sie die Abituraufgaben von vor 30 Jahren nicht lösen, umgekehrt wäre das aber auch so. Wissen verlagert und verändert sich. Das eigentliche Problem für viele Erstsemester - selbst für gute Schüler - ist die Umstellung auf die Freiheit des Studentendaseins: Sie sind überfordert, rasseln durch Prüfungen, verlieren Selbstvertrauen - und brechen schließlich frustriert ab.
SPIEGEL ONLINE: Wer ist verantwortlich?
Törner: Letztlich liegt die Schuld bei den Universitäten und uns Professoren, weil wir mit der offensichtlichen Diskrepanz zwischen Schul- und Unileben nicht optimal umgehen. Wir müssten die Studenten als unsere Kunden betrachten und ihnen entgegenkommen. Einfach zu sagen, die taugen nicht für ein Mathe-Studium, bringt nichts. Viele scheitern, weil wir sie mit unseren Erwartungen überfrachten. Das ist bedauerlich, denn wir verlieren potentiell gute Mathematiker.
SPIEGEL ONLINE: Immer wieder berichten Studenten von Professoren, die knallhart rausprüfen.
Törner: Tja, bei einigen gilt noch das absurde alte System: Unter Kollegen war es früher oft besser, einer zu sein, bei dem nur 40 Prozent der Studenten bestehen, als wenn 70 Prozent durchkommen. Dann hatte man nämlich schnell den Ruf, lasch zu sein. Manche Kollegen betrachten ihre harten Noten auch als einen natürlichen Ausleseprozess. Einmal hat ein Kollege einen Anfängerjahrgang derart ausgedünnt, dass der Fachbereich gesagt hat, den dürfen wir nie wieder zu den Erstsemestern schicken.
SPIEGEL ONLINE: Wie ließe sich das System ändern?
Törner: Wir müssen die Lehre wichtiger nehmen. Bislang ist eine Hochschule gut, wenn sie exzellente Forschung macht. Die Unis sollten sich aber auch darüber definieren, wie sie ihre Studenten begleiten. Nur die besten Dozenten sollten die Erstsemestervorlesungen halten. Und wir brauchen ehrliche Monitoringsysteme. Wenn ein Professor in den USA einen Kurs mit einer Erfolgsquote von nur achtzig Prozent hat, muss er sich dafür beim Dekan rechtfertigen, so wie kürzlich ein Studienrektor an der UBC in Vancouver.
SPIEGEL ONLINE: Viele Universitäten bieten mittlerweile Vorkurse an, in denen Studienanfänger noch vor Semesterbeginn Mathegrundlagen nachholen können. Bringt das etwas?
Törner: Ich bezweifle, dass man in vier Wochen alle Defizite aufholen kann. Ich plädiere für eine längere Eingewöhnungsphase, das ist in Kanada und den USA selbstverständlich, wo der Bachelor in der Regel mit vier Jahren angesetzt wird. Im ersten Jahr werden dort vor allem Grundlagen und ein gemeinsamer Wissensstand erarbeitet, während die Studenten bei uns von einem auf den anderen Tag tauglich sein müssen. Eine intensivere Betreuung, gerade auch der Frauen, und fortlaufende Überwachung der Ergebnisse kostet jedoch Geld.
SPIEGEL ONLINE: Warum fordern Sie eine Extra-Behandlung für Frauen?
Törner: Bei mir haben mehr Frauen als Männer promoviert, und ich habe auch mehr Mitarbeiterinnen als männliche Mitarbeiter. Wenn Frauen gut sind, sind sie oftmals besser als Männer. Frauen sind allerdings häufig bescheidener, in gemischten Übungsgruppen werden sie meistens völlig unbegründet zum Schweigen gebracht. Vor allem im ersten Studienjahr könnten daher reine Frauenübungsgruppen sinnvoll sein.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben zudem untersucht, dass Erfolg in der Mathematik bei weitem nicht nur mit Intelligenz zu tun hat, sondern auch mit der Haltung gegenüber dem Fach.
Törner: Ja, schlechte Noten können auch durch mangelnde Motivation und fehlende Begeisterung der Lehrer, Eltern und Mitschüler hervorgerufen werden. Solche Frusterlebnisse in einem Fach haben oft nachhaltige Folgen. Tatsächlich unterschätzen viele Schüler aber auch Erwachsene ihre Mathefähigkeiten.