Trendleiden Aufschieberitis Ich prokrastiniere, also bin ich
Diesmal soll's aber wirklich klappen. Der Abgabetermin für die Hausarbeit ist im Kalender rot markiert - nur noch knapp eine Woche! Der Bücherstapel, vor sechs Wochen auf der Fensterbank geparkt, steht unberührt wie am ersten Tag. Also schnell die Leihfrist online verlängern. Und noch eben eine E-Mail an die alte Freundin schreiben, ein neues Profilbild bei StudiVZ hochladen. Ach ja, bügeln, staubsaugen, Hamster füttern, Urlaubsflug buchen. Und der Bio-Joghurt ist auch schon wieder alle.
Diese klägliche Verzögerungstaktik hat einen Namen: im Volksmund Aufschieberitis, im Fachbegriff Prokrastination (von lateinisch pro - für, cras - morgen).
Kein Mensch steht gern unter Druck oder schätzt unangenehme Tätigkeiten. Bei manchen greift der Mechanismus "Ich erledige es und hab's dann hinter mir". Viele aber leben eher nach dem "Morgen ist auch noch ein Tag"-Prinzip. Mal eine Hausarbeit zu spät einreichen, ist meist noch kein Problem. Dreht sich aber der Alltag nur noch um das Aufschieben, kann das zu schweren psychischen Störungen und Depressionen führen.
Schmaler Grat zwischen Schussel und Problemfall
Vor milden Formen der Aufschieberei ist nicht mal ein Experte gefeit, der sich seit fünf Jahren mit dem Phänomen beschäftigt. Zögernd gesteht Professor Fred Rist, Leiter der Psychotherapie-Ambulanz an der Uni Münster, dass auch er manchmal ins Schlingern gerät, wenn er die richtigen Prioritäten bei seiner Arbeit setzen soll.
Rist lehrt in Münster Klinische Psychologie. Ihm war aufgefallen, dass immer mehr Studenten ernsthaft unter Aufschieberitis litten. Mit Faulheit oder Entscheidungsunfähigkeit habe das nichts zu tun, sagt Rist. Womit dann? "Die meisten gewählten Alternativtätigkeiten der Prokrastinierenden sind eher negativ. Obwohl sie aufschieben, wollen sie einem Selbstbild gerecht werden, etwas erledigen, sich dafür belohnen." Diese Tätigkeiten seien allerdings "kurz und überschaubar".
Über die Ursache gibt es verschiedene Theorien. Der US-Forscher Joe Ferrari aus Chicago etwa sieht sie in der Kindheit und Familienstruktur. Wenn dominante Eltern vom Kind permanent Leistung einfordern, bleibe nur noch die Rebellion durch Aufschieben, so eine Erklärung.
Erste Hilfe für studentische Aufschieber
Prokrastinieren aus Trotz? Fred Rist ist da skeptisch: "Die Ursachen haben eher damit zu tun, wie in unserer Gesellschaft Leistungsansprüche vermittelt werden oder wie das Schulsystem funktioniert." Wesentlich sei die eigene Persönlichkeit. Zum Aufschieben neige, wer labil sei oder sich generell leicht aus der Ruhe bringen lasse.
Prokrastination komme branchenübergreifend und in allen Berufsgruppen vor, sagt Rist. Isoliertes Arbeiten spiele dabei eine große Rolle, und das Phänomen lasse sich "an Studenten halt besonders gut erforschen".
Rist und seine Kollegen haben Trainingmodule entwickelt, um die Aufschieberitis in den Griff zu bekommen. So protokollieren Studenten präzise, wie lange sie tatsächlich am Tag gearbeitet haben, wie viel sie geschafft haben und welche Erwartungen sie hatten. Schnell werde dabei klar, dass viele sich völlig unrealistische Ziele stecken. "Wir denken immer, dass wir viel weniger Zeit benötigen, als dies tatsächlich der Fall ist", erklärt Rist einen Kardinalfehler vieler Aufschieber.
In zunächst fünfmal 90 Minuten übt Rist mit seinen Aufschiebern Fähigkeiten, die zu einer neuen Kultur des Arbeitens führen sollen. Die ersten Tipps lauten: pünktlich anfangen, realistisch planen, die Arbeit strikt vom restlichen Tagesinhalt trennen. Wer fragmentiert arbeite, also in kleinen unstrukturierten Häppchen mit vielen Unterbrechungen, neige ebenfalls zum Prokrastinieren.
Rists Kollege Peter Gollwitzer, Psychologie-Professor in Konstanz, stellte fest: Je klarer die Vorstellung von der zu erledigenden Arbeit, desto leichter fällt das Anfangen. Als Nächstes lernen die Prokrastinierer, einen bestimmten Zeitraum wirklich sinnvoll zu nutzen. "Erst wenn sie tatsächlich eine halbe Stunde voll und ganz an einer bestimmten Sache gearbeitet haben, bekommen sie für das nächste Mal zehn Minuten mehr", erklärt Rist die Strategie.
Soziale Kontrolle in der Gruppensitzung hilft dabei: "Am Anfang ist den meisten Teilnehmern Prokrastination peinlich. Dann kommt es aber zu einem positiven Effekt, wenn man merkt, dass es den anderen ähnlich oder noch schlimmer geht."
"Prekariat und Prokrastination"
Klar ist: Zwei Stunden effektive Arbeit am Tag sind mehr wert als endloses Gequäle über die Woche verteilt. Zunächst aber muss die Erkenntnis reifen, dass man tatsächlich ein Aufschiebeproblem hat. Rist und sein Team haben dazu einen Online-Fragebogen mit 19 kurzen Fragen zum eigenen Arbeitsverhalten entwickelt . Der Münsteraner Psychologe hält ernsthafte Selbstreflexion für weit sinnvoller als all die Zeitmanagement-Ratgeber, die oft die Bestseller-Listen verstopfen und selbst eher Zeitfresser sind.
Im Grunde gilt die gute, alte Devise "Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung". Und dann kann man auch einen Blick riskieren, wie andere das denn machen mit dem ewigen Aufschieben. Satiregott Max Goldt zum Beispiel protokolliert in seinem Text "Prekariat und Prokrastination" den kompletten Tagesablauf eines Profi-Aufschiebers.
Der Schweizer Autor Martin Suter zeigte in "Häusermann und die Ordnung" aus seiner "Weltwoche"-Kolumne "Business Class", wie es im Schreibtisch eines erfolgsverwöhnten Geschäftsmannes wirklich aussieht. Unter der vorbildlich aufgeräumten Oberfläche nämlich lauert in den Schubladen das Grauen - Spesenbelege mehrerer Jahre nebst Pizza und Schokoriegel, Herrenunterhose und "Mindmapping"-Buch.
Prokrastinieren für Anfänger und Fortgeschrittene: Sechs Studenten und Berufseinsteiger outen sich als notorische Aufschieber.
Stephanie in der E-Mail-Falle
Stephanie, 28, Germanistik:
"Die klassischen Aufschiebetätigkeiten finde ich ja eigentlich ganz nützlich: In besonders starken Lern- und Prüfungsphasen ist meine Wohnung so sauber wie nie. Sogar das Bad putze ich dann mehrmals in der Woche.
Richtig anstrengend finde ich aber den auf den ersten Blick unspektakulären Aufschieberalltag. Sowohl im Studium als auch in meinem Nebenjob bei einer Agentur muss ich viele größere und kleinere Texte schreiben. Das zieht sich über den ganzen Tag, weil ich permanent E-Mails checke. Mein Postfach ist immer nebenbei geöffnet, und alle fünf Minuten (manchmal sogar minütlich) wird geschaut, ob mir jemand geschrieben hat. Natürlich schreibe ich dann auch an unzählige Leute, nur um Antworten zu bekommen.
Ich habe schon versucht, in eine Bibliothek zu gehen und 'offline' zu arbeiten. Dabei bin ich aber so nervös geworden, dass ich gar nichts mehr zustande gebracht habe."
Torben in der Web-2.0-Falle
Torben, 24, Betriebswissenschaften:
"StudiVZ, MySpace, Facebook - ich habe bei allen Plattformen ein Profil, und das muss ich ständig aktualisieren. Neue Bilder oder neue Musik hochladen hält besonders auf.
Vor allem, wenn ich Hausarbeiten abgeben muss, bin ich permanent online. Da klatsche ich schnell ein Inhaltsverzeichnis hin, damit ich mein Gewissen beruhigt habe. Und dann fülle ich zwei Stunden bei Facebook die Weltkarte mit den 'Orten, an denen ich schon gewesen bin'.
Ganz schlimm ist es auch bei YouTube. Da kommt man vom Hundertsten ins Tausendste, weil es da einfach alles gibt. Schräg ist auch, dass mich plötzlich alles interessiert: alte Talkshow-Mitschnitte oder Handy-Videos von irgendwelchen Schülern, die sich beim Wettsaufen auf der Klassenfahrt gefilmt haben. Außerdem schaue ich bis zu zehnmal täglich bei SPIEGEL ONLINE vorbei, ob was Wichtiges passiert ist.
Bei StudiVZ bin ich übrigens auch Mitglied in der Gruppe: Hilfe! Ich leide unter Prokrastination!"
Matthias in der Verzettelungsfalle
Matthias, 35, Musiker:
"Ich kenne das Phänomen auch. Es tritt aber nicht generell auf, sondern interessanterweise dann, wenn ich ohnehin schon unter Druck stehe, sprich gerade dann, wenn es besonders angebracht wäre, einen klaren, strukturierten Kopf zu bewahren. Dann fordere ich das Chaos besonders heraus und tippe mal hier eine Mail, schäle mal da eine Karotte, denke dann an den dringend fälligen Zahnarzttermin ... und verzettele mich oft bis zur Verzweiflung.
Verrückt, oder? Ich hab es doch begriffen und schon praktiziert, dass es weise ist, organisiert an Sachen heranzugehen, Pläne zu machen, sich Zeit zu nehmen und Reihenfolgen einzuhalten. In der Regel folge ich dieser Erkenntnis mit viel Freude und Energie, und trotzdem scheint es so, als wollte ich es manchmal genau wissen.
Ich glaube, ich sehe das als eine Art Spiel oder eher Belastungstest. Denn einen organisierten Alltag zu meistern, ist ja kein Problem. Aber irgendwie habe ich den Satz 'Der wahre Held beherrscht das Chaos und lässt sich nicht vom Chaos beherrschen' verinnerlicht. Und vermutlich will ich bei solchen Verzettelungsaktionen rausfinden, ob ich zum Helden tauge.
Aber wehe wenn nicht ... Dann können auch schon mal Tränen rinnen, und ich brauche eine Heldin, die mich 'armes Würstchen' umarmt und mich mit Sanftmut da wieder runterbringt und sagt: 'Macht doch nichts, ich hab dich trotzdem lieb'."
Maren in der Sozialfalle
Maren, 27, Sprachwissenschaften:
"Aufschieben alleine geht nicht. Ich suche mir Ablenkung mit anderen. Irgendwer findet sich immer, der spontan Lust hat, etwas trinken oder ins Kino zu gehen.
Wichtig ist, dass man Leute kennt, die auch tagsüber, ohne große Vorwarnung, verfügbar sind. Ich glaube, das ist bei manchen meiner Bekannten der einzige Grund, warum ich überhaupt mit ihnen zu tun habe. Zu zweit oder in der Gruppe lässt sich dann besonders gut darüber jammern, dass ich wieder mal nichts auf die Reihe kriege oder eigentlich ja voll im Stress bin.
Ganz schlimm ist es, wenn ich in einer Beziehung bin und einen Freund habe, der mein Prinzip durchschaut hat und mich mit den üblichen Sprüchen motivieren will - da bricht dann die Hölle los. Aus heiterem Himmel einen Streit anzuzetteln, das ist sowieso eine der besten Prokrastinationsmethoden."
Robert in der Selbstbestätigungsfalle
Robert, 30, Werbetexter:
"Wenn ich ganz ehrlich bin, macht es manchmal auch Spaß, Sachen aufzuschieben und sich damit in Schwierigkeiten zu bringen. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man bestimmten Kunden absagen muss, weil man soviel zu tun hat.
Auch im Freundeskreis würde ich mir komisch vorkommen, wenn ich zugeben müsste, dass ich eigentlich gar nicht so beschäftigt bin, wie ich immer vorgebe. Durch das Aufschieben liegt ja dann tatsächlich immer irgendwas an - und das bedeutet dann auch, dass ich gebraucht werde."
Anonymus in der Depressionsfalle
Anonym, 32, in einem Internet-Forum:
"Ich neige dazu, essentiell wichtige Tätigkeiten, die mir Unbehagen bereiten, vor mir herzuschieben. Zum Beispiel Kunden zurückrufen, Überweisungen schreiben, Post öffnen, Steuererklärung machen, Job suchen etc.
Ich schiebe so stark auf, beziehungsweise erledige Dinge in einem Maße gar nicht, dass ich mich dabei existentiell gefährde. Mein Studium scheiterte vor einigen Jahren daran. Jetzt ist meine Selbständigkeit daran gescheitert.
Statt mir zu überlegen, wie es weitergeht, sitze ich seit acht Wochen im Büro und surfe im Internet herum. Ich bin jetzt 32. Wenn ich nicht bald die Kurve kriege, habe ich wenig Hoffnung auf ein langes Leben."