
Stipendien: Geld für Überflieger
Überflieger mit Stipendium Inzucht der Eliten
Einser-Abitur haben sie ja alle bei der Studienstiftung. Ein Schnitt von 1,1 ist da nicht weiter der Rede wert. Dass Eva-Maria Jung vorzüglich Klavier spielt, versteht sich von selbst. Und auch dass ihre Fächerkombination - Philosophie, Mathematik und Physik - etwas exotisch anmutet, überrascht nicht. Vielseitigkeit ist schließlich Programm.
Während ihres Studiums bekam Eva-Maria Jung als Hochbegabte ihr Geld von der Studienstiftung des deutschen Volkes, und dort war es etwas anderes, was sie hervorstechen ließ: Ihr Vater ist Hauptschullehrer, ihre Mutter hat kein Abitur. Daheim auf dem Land galt das als normale Mittelschichtfamilie. Jetzt, unter den Studienstiftlern, fühlte sie sich plötzlich eher am unteren Rand: "Anfangs kam ich mir schon ein bisschen fremd vor", sagt sie.
Sie staunte, wenn Diplomatensöhne von den Weltreisen mit den Eltern erzählten oder Professorentöchter von den Jahren im englischen Internat. Bei ihr zu Hause im hessischen Butzbach wäre an solche Extravaganzen nicht zu denken gewesen - und nicht nur, weil das Geld nicht gereicht hätte.
"Natürlich brachten die anderen auch wahnsinnig viel Wissen als Hintergrund mit", erzählt die heute 30-jährige Philosophin über ihre Mitstipendiaten. "Aber viel entscheidender war, wie gut die alle das akademische Leben kannten. Ich wusste ja nicht einmal, was eine Promotion ist."
Eintritt in die fremde Welt der Hochbegabten
Größer noch war der Kulturschock für Sevda Guel. Sie ist Türkin und spielt gar kein Musikinstrument. Nicht einmal Abitur hat sie gemacht. Ihr Vater ist Facharbeiter in einem Bauunternehmen, ihre Mutter hat einen 400-Euro-Job als Aushilfe. Aufs Gymnasium zu gehen war in ihrer Familie nie ein Thema.
Nach der Schule machte Sevda Guel eine Lehre. Und erst als sie merkte, dass sie die Arbeit als Außenhandelskauffrau nicht befriedigte, begann sie sich fortzubilden. Hartnäckig stöberte sie im Internet, löcherte Freunde, Bekannte und Behörden. Schließlich hatte sie einen Weg gefunden, wie sie mit Lehre, Berufserfahrung und Weiterbildungen auch ohne Abi studieren konnte. Sie schrieb sich ein im Fachbereich Logistik der Fachhochschule Ludwigshafen.
Gleich im ersten Semester schlug ihr Dozent sie für ein Hochbegabten-Stipendium der Studienstiftung vor. Das haute sie um. Es war der Eintritt in eine fremde Welt. Einmal im Monat trifft sich die 25-Jährige nun mit der Personnage ihres neuen Lebens im Café, mit Leuten, für die Shakespeare, Schubert und Schopenhauer alte Kindheitsvertraute sind. "Es sind Menschen, deren Lebensweg überragender ist", sagt Sevda Guel. Nein, Neid empfinde sie eigentlich nicht. Sie freut sich darüber: "So habe ich Vorbilder."
Jung und Guel sind Fremdkörper im Club der Überflieger. Die meisten Studienstiftler stammen aus gebildetem und aus begütertem Hause. Wer die Liste der Ex-Stipendiaten durchforstet, der stößt auf Arztsöhne und Pfarrerstöchter, auf Kinder von Anwälten, Architekten und Oberstudienräten.
"Wer hat, dem wird gegeben"?
Immer wieder regt sich Widerstand gegen diese Inzucht der Eliten. Denn ist es wirklich Aufgabe der Begabtenförderung, die ohnehin Begünstigten noch besonders zu päppeln? Heißt dies nicht Fördern nach dem "Matthäus-Prinzip": "Wer hat, dem wird gegeben"?
Etwa ein Dutzend Stiftungen in Deutschland spendieren für besonders Begabte. Etwa einer von hundert Studenten profitiert davon. Wer aufgenommen ist, erhält meist ein Büchergeld von derzeit 80 Euro monatlich zusätzlich zu dem ihm zustehenden Bafög-Satz. Vor allem aber kann er in erlesenem Kreise teilnehmen an allerlei Workshops, Akademien, Sprachkursen oder Berufsseminaren.
Das elitärste und zugleich mit Abstand größte der Begabtenförderwerke ist die Studienstiftung des deutschen Volkes, mehr als 10.000 Studenten bekommen ihr Geld aus der Zentrale in Bad Godesberg. Die Stiftung sieht ihre Aufgabe darin, die herausragenden Talente aus den Heerscharen deutscher Studenten herauszufiltern. Und dabei hat sich immer wieder aufs Neue gezeigt: Wer nach den Besten sucht, der wird am schnellsten unter den Gebildeten fündig.
Darauf könne und wolle die Studienstiftung keinen Einfluss nehmen, hatte der Stiftungspräsident, Ex-Stipendiat und Hirnforscher Gerhard Roth noch im Vorwort zum Tätigkeitsbericht 2008 verkündet. Intelligenz sei nun einmal "dasjenige Persönlichkeitsmerkmal, das am deutlichsten vererbt wird". Deshalb gelte geradezu als Naturgesetz: "Intelligente Eltern haben in der Regel intelligente Kinder." Im Bewerbungsverfahren irgendwelche Bonuspunkte für Arme zu vergeben sei "nur schwer vorstellbar".
Jetzt gelten solche Glaubenssätze nicht mehr: In sieben deutschen Großstädten vollzieht sich ein radikaler Einschnitt in der Geschichte der altehrwürdigen Studienstiftung - am vergangenen und am kommenden Samstag.
Fünf Stunden Grübeln und Knobeln, die über ihr Leben entscheiden können
1065 Erst- und Zweitsemester sämtlicher Fakultäten stellen sich einem Begabungstest. Fünf Stunden haben sie Zeit, insgesamt 100 Aufgaben zu knacken: fünf Stunden Grübeln und Knobeln, die über ihr Leben entscheiden können.
"Haft, Tadel, Familie, Sonne, Löschung, Widerruf, Schuld, Eintragung, Sühne, Scheidung, Aussage, Hitze ...": Knapp zwei Dutzend derartige Begriffe stehen da zum Beispiel in einer Wolke arrangiert herum. Welche von ihnen gehören zusammen? Wer merkt, dass eine Aussage ebenso widerrufen wie eine Eintragung gelöscht wird, der ist einen Schritt weiter auf dem Weg in die deutsche Studentenelite.
Bei anderen Aufgaben müssen die Kandidaten im Geiste eigenartige Klötze hin und her wenden müssen, verheddern sich in komplizierten Flussdiagrammen, vergleichen Streifen, Karomuster und Pfeile miteinander und versuchen den präzisen Sinn von Gesetzes- oder Lehrbuchtexten zu entschlüsseln.
Die Testbesten werden dann zu Auswahlseminaren geladen, auf denen sie in Diskussionen, Referaten und Einzelgesprächen ihre Brillanz unter Beweis stellen müssen. Auf jene, die auch diese Hürde überwinden, wartet ein Stipendium der Studienstiftung.
Wie fair geht es bei der Stipendienvergabe zu? Bei aufmüpfigen Hochbegabten regt sich Protest
Was da geschieht, ist in den Augen des Stiftungspräsidenten Roth eine "kleine Revolution". Generalsekretär Gerhard Teufel spricht gar von einem "historischen Tag", von einem "wichtigen Schritt hin zur Demokratisierung", von "mehr Teilhabe von jedermann".
Denn die gut tausend Kandidaten, die ihr Denkvermögen an diesen beiden Tagen miteinander messen, tun dies auf eigenen Wunsch. Sie haben sich selbst beworben, und bis vor kurzem wäre das undenkbar gewesen im Club der Superhirne. "Bisher galt die Devise: 'Begabung kann man nicht selbst erkennen'", erklärt Teufel. "Deshalb konnte man grundsätzlich nur auf Empfehlung aufgenommen werden." Nun aber habe die Stiftung ihre Pforten geöffnet.
Wo immer möglich, wurden besonders jene zur Bewerbung ermuntert, die aus sozial schwachen Verhältnissen stammen. Wer Bafög bekommt oder Eltern hat, die keine Akademiker sind, dem erlässt die Studienstiftung die Hälfte der Bearbeitungsgebühr von 50 Euro.
Teufel bewertet das Experiment schon jetzt als großen Erfolg. 546 der Kandidaten, und damit mehr als die Hälfte, haben den ermäßigten Sozialtarif in Anspruch genommen. Die Zielgruppe sei also erreicht worden.
Kaum ein Arbeiterkind fand den Weg an die Uni
Mit der neuen Besinnung aufs Soziale, so Teufel, knüpfe die Stiftung an ihre Ursprünge an. Denn als das Begabtenförderwerk 1925 gegründet wurde, war die Unterstützung der Armen ausdrücklich Programm.
Kaum ein Arbeiterkind fand damals den Weg an die Uni. Doch der Bedarf an Akademikern wuchs rasch. Sie alle aus der kleinen Bildungselite zu rekrutieren schien kaum möglich. Die moderne Industriegesellschaft konnte es sich nicht länger leisten, die Talente aus den unteren Schichten verkümmern zu lassen. Nach ihnen zu fahnden und sie dann zu entfalten wurde zur Bestimmung der neuen Stiftung. Folglich sollte nur gefördert werden, wer wirtschaftlich bedürftig war.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Aufnahmebedingung aus der Satzung gestrichen. Die Studienstiftung konnte sich nun ganz der Pflege des Geistes widmen. Der soziale Auftrag war erloschen.
Der neuen Aufgabe, die Besten der Besten zu hegen, wandte sich die Studienstiftung mit Inbrunst zu, doch ohne allzu viel Aufsehen. Denn anders als in anderen Ländern war der Begriff Elite spätestens seit den 68er-Protesten verpönt in Deutschland. "Elite mag man in Gottes Namen sein, niemals darf man als solche sich fühlen", so hat es Theodor Adorno einmal formuliert.
In Frankreich führt der Weg an die Spitze in Staat oder Wirtschaft fast zwingend durch die Grandes Ecoles, ehrfurchtgebietende Institutionen. Wer es in England zu etwas bringen will, der tafelt im Talar im prunkvoll-neogotischen College-Speisesaal. Die deutschen Studienstiftler dagegen treffen sich bei Salzgebäck zum Plausch beim Vertrauensdozenten.
Mitgliedschaft im Club der Besten kann Karriere-Türen öffnen
Ohne dass der Durchschnittsstudent viel davon wahrnimmt, hat sich so ein Zirkel der Auserkorenen gebildet, dem inzwischen immerhin ein knappes halbes Dutzend Nobelpreisträger entstammt. Auf der Liste der Ehemaligen finden sich Politiker wie Antje Vollmer oder Georg Milbradt, Künstler wie Anselm Kiefer oder Horst Janssen und Literaten wie Hans Magnus Enzensberger oder Sten Nadolny. Die RAF-Terroristinnen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin strichen ihr Büchergeld ebenso ein wie 3 der 16 aktuellen Karlsruher Verfassungsrichter.
Doch es ist weit mehr als nur das Geld, von dem die Stipendiaten profitieren. Da werden in den Dolomiten gemeinsam Dreitausender erklommen, während man über persische Literatur, Pfadintegrale in der Vielteilchenphysik oder das Verhältnis von Recht und Religion plaudert. Für manch einen können die Kontakte, die er dabei knüpft, die Karriere entscheiden.
Auch nach dem Studium kann die Mitgliedschaft im Club der Besten noch Türen öffnen: Das Stichwort "Studienstiftung" in der Bewerbung verfehlt nicht seine Wirkung auf Personalchefs. Zusätzlich kann man sich auf dem "Kontaktseminar Wirtschaft", das die Stiftung einmal im Semester abhält, in erlesener Gesellschaft in der Kunst des Bewerbungsgesprächs üben - und vielleicht wird man dabei von der Unternehmensberatung McKinsey entdeckt, die bei der Rekrutierung ihres Nachwuchses ganz gezielt in den Gewässern der Studienstiftung fischt.
Da aber Dünkel im Kreis der Hochbegabten ungern gesehen, maßvolle Selbstironie dagegen durchaus willkommen ist, fällt es leicht, die soziale Frage zu verdrängen. Generalsekretär Teufel sagt, auch er habe sich lange in der Illusion sozialer Gerechtigkeit gewogen: "Wir haben uns für fair gehalten."
Drastische soziale Schieflage
Erst als die Stiftung vor anderthalb Jahren die Herkunft ihrer Stipendiaten einmal systematisch erhob, ließ sich die soziale Schieflage nicht länger leugnen. Noch drastischer als die eigene Analyse fiel das Ergebnis einer Untersuchung des Hochschulinformationssystems in Hannover (HIS) aus: In sämtlichen Kirchen- und Parteienstiftungen, so der Befund, werden bevorzugt die Kinder der Reichen und Gebildeten gefördert. Doch nirgendwo ist diese Diskriminierung so drastisch wie bei der Studienstiftung.
Gerade einmal jeder 20. Studienstiftler stammt demnach aus sozial "niedrigen" Verhältnissen. Mehr als vier Fünftel dagegen sind in einem Elternhaus mit "gehobenem" oder "hohem" Status aufgewachsen (siehe Grafik).
Mit der neuen Form der Selbstbewerbung setzt der Club der Hochbegabten nun erstmals ein Signal, diesen Missstand ändern zu wollen. Wie wirksam dies ist, bleibt freilich abzuwarten. Für die gut tausend Bewerber, die in den nächsten Wochen getestet werden, stehen etwa hundert Stipendien bereit. Falls tatsächlich die Hälfte von ihnen an die Söhne und Töchter von Schlossern, Busfahrern oder gar Hartz-IV-Empfängern vergeben werden, würde dies bei derzeit über 3000 Neustipendien pro Jahr nicht mehr als 1,5 Prozent ausmachen.
Da stellt sich die Frage, ob Gerhard Roths "kleine Revolution" nicht doch nur ein Akt politischer Anpassung ist - zumal der Sohn des Fensterputzers so wenig von der Chance auf Selbstbewerbung erfahren wird, wie Eva-Maria Jung wusste, was eine Promotion ist.
Voraussichtlich mehr Büchergeld - aber nicht alle rufen Hurra
Finanziell jedenfalls wird eine andere Veränderung weit mehr ins Gewicht fallen: Nachdem Forschungsministerin Annette Schavan die Begabtenförderung bereits in den vergangenen Jahren drastisch ausgebaut hat, will der Bund nun auch die finanzielle Ausstattung der Stipendien üppiger gestalten: Voraussichtlich ab Oktober wird sich das Büchergeld von 80 auf 300 Euro fast vervierfachen - für alle, auch die begüterten Stipendiaten.
Die streiten sich jetzt heftig. Einige verteidigen die Gleichverteilung. Andere machen sich stark dafür, auf den Geldsegen zu verzichten zugunsten der sozial schwachen Kommilitonen.
Die wiederum freuen sich uneingeschränkt aufs höhere Büchergeld. "Für mich wären diese 300 Euro wirklich viel Geld", sagt die Ludwigshafener Logistikstudentin Sevda Guel. Was die neue Großzügigkeit für die Mehrheit der Bessergestellten bedeutet, darüber mag sie nicht urteilen: "Eigentlich haben die doch alles, was sie brauchen."
Autor Johann Grolle, 48, war selbst Stipendiat der Studienstiftung. Ein klassischer Kandidat: Vater und Mutter haben promoviert, mit 14 las er Thomas Mann, mit 18 den "Ulysses", Klavier kann er auch. Nach dem Physikstudium nahm ihn die Henri-Nannen-Schule auf, Eliteschmiede des deutschen Journalismus. Seit 1996 leitet Grolle das Wissenschaftsressort des SPIEGEL.