
Jugendliche aus Donezk: Gestrandet in Osterholz-Scharmbek
Ukrainische Studenten in Deutschland "Ich habe Angst um meine Familie"
Der Hut mit schwarzer Krempe passt nicht wirklich zu Saschas Gesicht. Einem Aristokraten oder einem Westernhelden stünde er vorzüglich, aber an Saschas Kinn sprießen gerade mal erste Bartstoppeln.
Den drei Mädchen, die in folkloristischen Kostümen um den 19-Jährigen herumtanzen, gefällt seine Kopfbedeckung gut. Sie blödeln herum, aber Sascha tut sich etwas schwer, mitzulachen. Sascha ist Ukrainer aus Donezk, der schwer umkämpften Großstadt in der Ostukraine - und eigentlich sollte er jetzt gar nicht mehr hier sein, in der niedersächsischen Provinz.
Er sollte zu Hause für die Uni lernen, im nächsten Jahr will er den Master-Abschluss als Dolmetscher machen. Stattdessen sucht Sascha nun in einem Tagungsraum in Osterholz-Scharmbek Theaterkostüme zusammen. In dem Stück spielen 30 Jugendliche mit, es geht um das Westpreußen des deutschen Kaiserreichs, um Vertreibung und Nationalismus. Der Stoff ist uralt, aber für Sascha leider aktuell: Vertreibung und Nationalismus erschüttern seine Heimat und in die muss er schon bald zurück, auch wenn seine Eltern sagen, er soll besser fort bleiben. Weit weg, im sicheren Deutschland.
Übernachtung im Zirkuswagen und banges Warten
Saschas Heimatstadt ist derzeit der Schauplatz des blutigen Konflikts zwischen Separatisten und den Regierungssoldaten der Ukraine. Jeden Tag kämen von Zuhause beunruhigende Nachrichten, Bekannte seien erschossen und die Häuser von Nachbarn zerbombt worden, sagt Sascha. Er selbst stehe auf keiner Seite. Auch wenn die Separatisten vorgeblich im Namen von Ukrainern wie ihm kämpfen. Saschas Eltern lebten lange Zeit in der Sowjetunion, seine Muttersprache ist Russisch, doch mit den bewaffneten Maskierten will er nichts zu tun haben. "Ich habe Angst um meine Familie, ich will einfach nur in Frieden in Donezk leben und studieren." Doch er sitzt fest in Osterholz-Scharmbeck.
Mit neun Kommilitonen ist Sascha seit gut drei Wochen im Tagungshaus Bredbeck. Eigentlich wollten sie nur eine Woche bleiben. Sie kamen auf Einladung des Auswärtigen Amtes auf das Gelände eines ehemaligen SS-Lagers, um an einem Geschichtsprojekt mitzuarbeiten. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen erarbeiteten sie daraufhin Denkstätten-Konzepte für das frühere Nazilager. Bis zu jenem Tag vor drei Wochen, an dem Flug MH 17 abgeschossen wurde.
"Plötzlich waren die Studenten völlig abwesend und beteiligten sich nicht mehr an den Diskussionen", sagt Organisator Frank Bobran. Die Jugendlichen erzählten ihm, dass die Familien ihren eigenen Kindern vom Rückflug abgeraten hätten. Donetzk war von der ukrainischen Armee nahezu eingekreist. Und die Studentenheime, in denen sie bis vor wenigen Tagen gelebt hatten, waren von Separatisten besetzt worden.
Also flogen die zehn jungen Ukrainer nicht, sie waren gestrandet und mussten improvisieren: Zwei Wochen lang halfen die Ukrainer dem Hausmeister, strichen Möbel an, renovierten ein morsches Tipi-Zelt und halfen im Wald. Als andere Jugendliche aus Polen für ein Theaterprojekt dazustießen, wurde es ein wenig erträglicher.
Au-Pair-Verträge für die gestrandeten Studenten
Das Seminarhaus ist nun völlig überfüllt. "Die Ukrainer schlafen jetzt in der ehemaligen Hausmeisterwohnung oder in Zirkuswagen", sagt Bobran. Am meisten beschäftigt ihn und das Organisationsteam die Frage, was mit den Studenten aus Donezk nach dem Theaterworkshop werden soll. Am Sonntag laufen ihre Visa ab, sie müssten ausreisen, aber aktuell will keiner nach Donezk zurück. In die abgeriegelte Stadt soll es kaum noch Züge und Busse geben. Ein normales Studium sei in seiner Heimat ohnehin nicht mehr möglich, sagt Sascha. "Aber woanders geht das auch nicht, ich habe ja keine Papiere hier." Ohne sein Bachelor-Zeugnis aus Donezk kann Sascha seinen Master nicht fortsetzen. Einen Job bekäme der 19-Jährige, der fünf Sprachen fließend spricht, auch nicht. Er fühlt sich gefangen und sagt: "Wir sitzen alle in der Falle."
Sascha weiß nicht, was nach Sonntag mit ihm geschehen wird. Einige der anderen reisen zu Verwandten in der Westukraine oder - wegen ihrer russischen Muttersprache - auf die von Russland annektierte Krim. Für andere blieben nur Aufnahmelager in Kiew.
Doch das Team der Begegnungsstätte um Frank Bobran will den Studenten ohne Uni und Heimat helfen: "Wir versuchen gerade, Au-Pair-Verträge für sie zu organisieren oder sie in internationalen Freiwilligendiensten unterzubringen", sagt er. "Dann können sie alle zurück nach Deutschland kommen."
Dass er und seine Kommilitonen sich das sehr gut vorstellen könnten, bekräftigt auch Sascha. "Ich habe schon früher davon geträumt, eines Tages als Dolmetscher in Deutschland zu arbeiten", sagt er. Vorher wolle er aber trotzdem erst einmal in die Ukraine. "Das ist doch mein Land", sagt er, "und dort will ich auch mein Studium abschließen."