Uni-Crash durch Finanzkrise Harvard verliert gigantische Vermögenswerte
Tom Rifley, 27, war etwas zu lange bei einem Dinner bei Kommilitonen geblieben. Um in sein Wohnheim zu kommen, rief der Graduate-Student den Fahrdienst. Der brachte ihn sicher zurück - kostenfrei, versteht sich. "Normalerweise mache ich das nicht", sagt Rifley. "Aber an diesem Abend fand ich es ganz praktisch." Harvards eigener Taxiservice macht's möglich.
Die Elite-Uni hat vieles, was andere nicht haben. Eine eigene Harvard-Polizei patrouilliert um den Campus, Studenten können mit Psychologen über Lernprobleme grübeln - dank eines Stiftungsvermögens, dessen Volumen dem Bruttosozialprodukt kleinerer Staaten gleicht: 37 Milliarden Dollar.
Zumindest war es vor wenigen Monaten so viel wert.
Denn jetzt hat die Uni in Cambridge nahe Boston das, was alle Unis kennen - Finanzprobleme. Allerdings in einer anderen, gigantischen Dimension.
Von den rund 37 Milliarden Dollar sind acht Milliarden bereits verschwunden. Und das ist nur der letzte offiziell mitgeteilte Stand. Gerade hat Edward C. Forst, Harvard-Vizepräsident für Finanzen, eingestanden, dass noch gar nicht alle Verluste bekannt sind. Das jüngste Quartal ist noch gar nicht eingerechnet - und das dürfte das miserabelste sein. In den Wochentreffen der Finanzchefs ist von "wahrscheinlich 16 Milliarden Dollar" Verlust die Rede, sagt ein Institutsgeschäftsführer, der aus Angst um seinen Job anonym bleiben will. Rating-Agenturen schätzen, dass Harvard ein Drittel seines Kapitals einbüßen wird, also 13 Milliarden Dollar.
Die Harvard-Manager versuchen nun noch eilig, Fonds mit faulen Krediten loszuschlagen. "Das sind selbstverständlich keine Notverkäufe", sagt Börsenexperte Dan Primack. "Ein Notverkauf wäre es, wenn du dir holst, was du kriegen kannst. Harvard ist kein hoffnungsloser Fall."
"Hey, es ist doch Harvard!"
Harvard und hoffnungsloser Fall? Eine solche semantische Kombination existierte bisher gar nicht.
Das führt auf dem Campus zu einer Mischung aus gespielter Lässigkeit und gedämpft neuenglischer Panik. "Ich will meinen Master und dann raus hier", sagt Wirtschaftsstudentin Marina Sanchez, 24. Sie macht gerade ihren Abschluss in Management und Finanzen. "Die Kürzungen wirken sich auf meinen Stundenplan für 2009 aus. Alles wird enger, es gibt weniger Angebote."
Ihre jüngeren Kommilitonen, die als arrogant verschrieenen Freshmen, wollen von Krise nichts wissen - immerhin zahlen sie jährlich 47.000 Dollar Studiengebühren. "Ja, wir haben darüber gesprochen, dass die Uni Geld verloren hat", sagt Sarah, 17, die sich gerade um einen Studienplatz bewirbt. "Aber, hey, es ist Harvard! Andere Unis besitzen überhaupt nicht so viel Kapital, wie Harvard verloren hat."
Malcolm Glenn, Chefredakteur der Studentenzeitung "The Harvard Crimson", schwankt zwischen Aufklärungswunsch und harvardgemäßer Coolness. "Das College ist eine abgekoppelte Welt. Hier sind Leute, die überproportional viel Geld haben. Die Wirtschaftskrise ist weit weg von ihnen", sagt er. Für ihn wie für alle kommen die Verluste durch "Kräfte von außen, die stärker sind als wir".
Auf der "Crimson"-Sonderseite zum Finanzdesaster findet sich ein verräterischer Satz: Das Minus des Stiftungsvermögens zeige, dass "die Realität der Krise heimgekommen ist". Fakultäts- und Institutsmanager bekommen das jetzt Woche für Woche vor Augen geführt. "Wir treffen uns regelmäßig, und die Manager aus der Zentrale sehen dabei jedes Mal blasser aus", berichtet der Finanzverwalter eines Instituts. "Sie haben ein riesiges Loch, und sie wissen einfach nicht, was sie tun sollen."
Geräuschvolles Schweigen
Keiner, der Verantwortung trägt, nennt seinen Namen. Das ist neu an dieser stolzen Universität.
Die Sparvorschläge gleichen einer Revolution. Gehälter werden eingefroren. Prägende Fakultäten wie die Medical School, die Fakultät für "Arts and Science" oder das John-F.-Kennedy-Institut für Regierungslehre versuchen, mit einem 15-Prozent-Minus umzugehen - vorerst. Denn niemand weiß genau, wie viel wirklich geopfert werden muss.
Überall werden Einstellungsstopps verkündet. Der Umzug eines großen Teils der Uni auf die andere Seite des Charles River ist so gut wie gestrichen.
Die Universitätssprecher beschweigen grundlegende Fragen nach Kräften. "Wir werden keine Investmentstrategien diskutieren oder gar einzelne Investmententscheidungen", sagt Sprecher Joshua Poupore.
Harvard-Präsidentin Drew Faust allerdings weiß, dass sie sich zu viel Verschlossenheit nicht leisten kann. Sie schreibt nun mit schöner Regelmäßigkeit E-Mails an die Angehörigen der Uni: "Harte Entscheidungen sind jetzt nicht mehr zu vermeiden", künftig könne nicht mehr jeder Graduiertenstudent Stipendien erwarten.
Das ist mehr, als die Chefs anderer großer US-Unis tun. Fast alle halten sich sehr bedeckt und sagen nicht präzise, wie schwer die Finanzkrise sie erwischt hat, welche Folgen das haben wird - zum Beispiel für die Studiengebühren. Die meisten Hochschulen äußern sich nur vage: Kalender- und Finanzjahr seien nicht vorbei, darum gebe es keinen soliden Überblick. Finanzexperten werden da konkreter. Sie erwarten, dass die Vermögen von US-Hochschulen um 20 bis 30 Prozent einbrechen. Viele hatten vom Börsengeschäft profitiert und bekommen nun wie Harvard Probleme.
In Yale gibt man immerhin zu: "Offensichtlich erlebt Harvard gerade das, was die meisten Stiftungen gerade durchmachen, und wir in Yale sind dagegen nicht immun" - so drückte es der langjährige Uni-Präsident Richard Levin aus.
Nicht nur der traditionsreichen Efeuliga, wie die Elite-Unis genannt werden, droht nun die Entlaubung. Auch staatliche Unis starten schon Sparprogramme. Und noch gar nicht auszumachen ist, wie stark die Wirtschaftskrise die Spendenbereitschaft von Alumni dämpfen wird, die ihre früheren Unis traditionell mit Geldgeschenken verwöhnen.
Vermögensverwaltung mit angeschlossener Uni
Die jetzige Krise offenbart ein strukturelles Problem gerade hochrangiger US-Universitäten. Wenn man nach den wirtschaftlichen Kennziffern geht, ist zum Beispiel Harvard weniger eine Uni mit Finanzprofis als vielmehr eine Vermögensverwaltung mit angeschlossener Uni. Das Herz ist die Harvard Management Company (HMC), praktisch eine Investmentbank. Sie wurde Anfang der neunziger Jahre gegründet, um den Geldwettlauf gegen den ewigen Rivalen Yale nicht zu verlieren.
Anfangs waren in der HMC zehn Mitarbeiter beschäftigt, nun sind es gut 200. Die Chefs wechseln zwischen Uni und Investmentbanken hin und her - und genau hier liegt das Problem.
Der Börsenboom bescherte Harvard einen märchenhaften Zuwachs ihres Stiftungsvermögens von 5,8 Milliarden Dollar Ende der achtziger Jahre auf 19,2 Milliarden im Jahr 2000 - und zuletzt eben auf 37 Milliarden Dollar. So wurde die Uni nicht nur reich, sondern auch abhängig: von Börsenprodukten, die erst schnelle Gewinne brachten, nun jedoch diskreditiert sind. Denn die Finanzjongleure setzten auf Private-Equity-Fonds und Derivate.
Als die HMC ihre Arbeit begann, hatte die Uni noch weitgehend konservative Anlagen. Schon 1995 indes warnte das Magazin "Forbes", Harvard stecke "knietief in Derivaten".
Derivate sind jene Finanzprodukte, über die die Finanzminister der Welt gerade zu Gericht sitzen, um sie zu verbieten oder ihren Handel straff zu kontrollieren. Derivate und hochspekulative Fonds sind für den Fast-Zusammenbruch des Weltfinanzsystems mitverantwortlich. Für Harvard dagegen waren sie das produktivste Kapital, mit einem return on investment von zeitweise fabulösen 23 Prozent.
Verdruss über Mondgehälter der Fondsmanager
Nun sind sie Verlustbringer, moralisch wie finanziell.
Es gab an der Uni schon immer kritische Fragen zu den Investments. Professoren ärgerten sich, dass sie 250.000 Dollar im Jahr verdienten - während der HMC-Boss jungen Tradern Prämien von bis zu 35 Millionen Dollar zahlte.
Ex-Arbeitsminister Robert Reich schimpfte, das gigantische Stiftungsvermögen sei absurd. Der Ökonomie-Professor Jeffrey Sachs fragte: "Es ist ja gut, so viel Geld zu haben, aber zu welchem Zweck bloß?"
Noch führt die Intelligenzia der Uni die Debatte nicht öffentlich. Sobald die Verluste aber verkündet sind, wird sich Harvards wahres Kapital zu Wort melden. Und die Kritik der Mitarbeiter beginnt ja bereits.
"Für mich gab es immer einen Widerspruch zwischen einer Investmentbank und einem Ort höherer Bildung", sagte neulich Robert Holt aus der Chemiefakultät. Der Medizinprofessor Paul Farmer diskutierte bei einer Konferenz an der John F. Kennedy School die Zukunft der Universität: "Es geht nicht darum, eine neue Lehman-Brothers-Bank aufzubauen - verfolgen Sie ihren Traum von einer fairen Bildung!"
Der weltweit anerkannte Anti-Tuberkulose-Aktivist Farmer richtete diesen Satz über die bankrotte Investmentbank formell an einen kritischen Wirtschaftsstudenten. Gemeint hat er aber jemand anderen: Harvard-Präsidentin Drew Faust - sie saß mit ihm auf dem Podium.