Eine weihnachtliche Kurzgeschichte der besonderen Art Licht an, Licht aus

Als Jakob in die Wohnung unter uns zog, war es Catherine, die zuerst nervös wurde. Sie war, das muss man wissen, zu diesem Zeitpunkt auf der Suche, und zwar nach einem Juden. Nach einem, der religiös war, jedenfalls traditionell, jedenfalls ein wenig, mit Kippa und so.
Vormittags lernte Catherine Hebräisch, nachmittags hockten wir zusammen auf dem Balkon; sie und ich und manchmal auch Toki, wenn er nicht Klarinette spielte am Fenster oder in seinem Orchester. Wir drei teilten uns drei Zimmer in einer Gasse neben der Jaffa-Straße kurz vor der Ecke zum Zionsplatz.
Obwohl der November schon fortgeschritten war, hatte die Kälte es noch nicht nach Jerusalem geschafft. Wir schwebten auf den letzten Sonnenstrahlen des Jahres über die Jaffa-Straße, sahen den Schülern des Rabbi Nachman zu, wie sie auf dem Zionsplatz um ihren Lautsprecherwagen tanzten. Catherine musterte die Tänzer, ihre Bärte und weißen Häkelmützen.
Catherine teilte uns mit, wir Kerle hätten es einfach und könnten uns gar nicht vorstellen, wie es sei, nicht nur einen Mann, sondern auch einen Vater zu suchen, also einen Mann und Vater. "Ach", sagte Catherine und hob die Schultern und sog Luft ein und schwieg.
"Hallo, ich bin der Nachbar."
Wenn nach einer Weile die wichtigen Dinge des Lebens besprochen oder beschwiegen waren, knackten wir Sonnenblumenkerne und spuckten die Schalen über die Brüstung; manchmal fielen sie jemandem auf den Kopf. An einem dieser Nachmittage, es muss um den ersten Advent gewesen sein, fiel eine dieser Schalen Jakob auf den Kopf. Jakob musste etwas gespürt haben, er sah kurz hoch und schüttelte sich. Wir versteckten uns wie drei feige Eichhörnchen. Ob Jakob an diesem Tag eine Kippa trug, daran kann ich mich nicht erinnern. Er war da, um sich die Wohnung unter uns anzuschauen.
Eine Woche später zog Jakob ein. Ich begegnete ihm auf der Treppe, er drückte mir einen Plattenspieler in die Hand und sagte: "Erster Stock." Ich brachte Jakobs Plattenspieler in den ersten Stock. Aus dem Transporter vor der Tür stemmten junge Männer und Frauen Möbel heraus und Kisten, Kisten, Kisten. Jakob trug Jeans und eine schwarze Strickjacke. Auf seinem Kopf hing eine rote Mütze, deren Schirm steil nach oben zeigte. An diesem Tag trug er also keine Kippa, aber eine Mütze.
"Hallo, ich bin der Nachbar."
"Schalom. Ich bin Jakob."
Ich ging durch die Wohnung. Im einzigen Zimmer stand ein Doppelbett, auf dem Kleider ausgebreitet lagen: Anzüge, Röcke, ein Seefahrerhemd, sogar eine grüne Cordhose und ein roter Mantel waren dabei und einige Hüte. Als ich die Wohnung verließ, kam gerade der Fernseher die Treppe herauf. Am Abend saßen Catherine, Toki und ich auf unserem Balkon.
Toki beschäftigte ein Vorschlag seines Dirigenten: Mit dem Orchester wollte der gern ein Weihnachtskonzert mit Gottesdienst am Heiligabend in einer Kirche in einem christlichen Dorf in der Westbank geben. Irgendwo in der Nähe von Ramallah. Der Kinderchor des Dorfes sollte auch auftreten und Weihnachtslieder singen: "O Little Town of Bethlehem", "Angels From the Realms of Glory" und auch "Jingle Bells". Ein Weihnachtsmann werde noch gesucht, der ein paar Geschenke verteilt, sagte Toki. Ich war empört.
"Ein Weihnachtsmann? In der Kirche?" Toki schaute irritiert.
"Ja, in der Kirche. Vielleicht auch am Ausgang. Aber das ist doch nicht das Problem!"
"Sondern?"
"Ich darf da nicht hin, in dieses Dorf. Das halbe Ensemble darf da nicht hin. Das Dorf liegt in der Autonomiezone. Da gibt es keine Israelis. Höchstens in Uniform."
"Was sagt der Dirigent?"
"Genau das ist der Punkt. Findet unser Dirigent. Darum müssen wir da hin, weil wir nicht dürfen und weil die nicht zu uns dürfen."
Catherine mischte sich ein. Oder vielmehr: Sie beendete das Gespräch."Wir haben einen neuen Nachbarn", sagte sie. "Jakob."
"Der, dem du auf den Kopf gespuckt hast?", fragte Toki.
"Ich? Du! Außerdem trug er eine Kippa. Die Schale ist abgeprallt."
"Ach ja?"
"Ja. Wir laden ihn ein", sagte Catherine. "Am Schabbat, zum Essen."
Die Kippa als Hinweisschild
Toki nickte. Ich nickte. Im Laufe der Woche begegnete Catherine diesem Jakob mehrfach auf der Treppe. Es müssen besondere Ereignisse gewesen sein, so wie der Tag, an dem Ben Gurion den Staat Israel ausrief, oder der Tag, an dem Dana International den Eurovision Song Contest gewann. Jedenfalls erzählte Catherine in etwa so ausführlich davon. Mir war Jakob auch begegnet, er hatte "Schalom" gesagt, ich auch. Ob er eine Kippa getragen hatte, wusste ich nicht mehr. Aber genau das wollte Catherine wissen.
Mit der Kippa ist es nämlich so: Trägt ein Mann sie im Alltag, will er meist etwas damit sagen, nämlich dass er jüdisch ist und religiös. Für Catherine war eine Kippa auf dem Kopf eines jungen Mannes so etwas wie ein Hinweisschild.
Am Freitagvormittag ging Catherine zum Markt. Später bügelte sie ihren Rock und hielt Blusen ins Licht. Sie machte sich laut darüber Gedanken, ob Jakob eine Kippa getragen habe, ob er überhaupt immer eine trage, als wäre damit schon alles klar und gesagt und die Sache geritzt. Ich erinnerte mich nur an Jakobs Schirmmütze, die rote, aber auch unter einer Schirmmütze konnte er natürlich eine Kippa getragen haben, ja sicher, und im Übrigen hatte fast jede Kopfbedeckung, auch ein Motorradhelm, in Bezug auf Gott nach traditionell jüdischer Auslegung die gleiche Funktion.

Ausgabe 6/2015
Freunde auf Zeit
Was vom Erasmus-Gefühl bleibt
Catherine kochte Huhn mit Granatapfelsoße und stellte die Töpfe auf eine Warmhalteplatte, da Kochen, Elektrizität, kurz alles, was als "Feuer" interpretiert werden konnte, religiösen Juden am Schabbat verboten ist. Catherine zog sich in ihr Zimmer zurück, um sich schick zu machen. Sie stellte einen Leuchter auf den Tisch und einen Becher aus Silber und eine Weinflasche und Kerzen und Brot. Sie begann merkwürdige Verse zu singen.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie wusste, was sie da tat, und außerdem, dachte ich, wussten wir gar nicht genau, ob Jakob wirklich eine Kippa getragen hatte und so traditionell wie möglich den Schabbat begrüßen wollte. Toki und mir befahl Catherine, ein Hemd mit Kragen anzuziehen, die Haare zu kämmen und, tatsächlich, sie gab uns beiden eine Kippa. Ich fühlte mich wie am Rosenmontag.
Wir standen unentschlossen mit den Kippas in der Küche. Toki erzählte von seinem Konzert am Heiligabend in dem Dorf in der Westbank in der Nähe von Ramallah, und ich versprach mitzukommen und fragte, ob dieses Dorf zufällig "Bethlehem" hieß, und dann lachten wir, und mein Blick fiel auf den Kalender, und ich sah, dass in zwei Tagen bereits der zweite Advent war - und da klopfte es auch schon an der Tür: Jakob, unser Gast.
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Er trug ein Hemd mit Kragen und auf dem Kopf eine Kippa und unter dem Arm eine Flasche Rotwein.
"Schabbat Schalom."
Als Catherine ihn begrüßte, zog Jakob die Kippa wie einen Hut und deutete eine Verbeugung an. Für einen Moment wurde es still. Wir gingen in die Küche. Wir nahmen Platz. Catherine sah ihn erwartungsvoll an. Jakob sah sie erwartungsvoll an. Ich sah Toki an. Er sah aus dem Fenster.
So ging das fünf Minuten. Jakob sah auf, sah ab, Catherine folgte seinem Blick. Nichts passierte. Irgendwann nahm Toki Brot und goss sich Wein ein. Catherine fauchte: "Kannst du nicht Rücksicht nehmen? Es gibt Menschen, denen Religion wichtig ist!"
"Aber es macht ja keiner etwas."
Jakob malte mit dem Finger einen Kreis auf den Tisch. "Er betet", flüsterte Catherine.
Sie schob Jakob den Silberbecher hin und begann etwas zu singen, was in meiner Erinnerung "Kiddusch" hieß. Jakob summte mit. Toki summte irgendwas. Ich wusste nicht so recht. Jakob stand auf und erhob den Becher und sagte etwas auf Hebräisch. Wir tranken. Toki griff nach dem Brot, aber Catherine schlug ihm auf die Hand.
"Wirst du wohl?"
Jakob sprach und sang, und es klang wie Hebräisch, aber so, als würde er nur drei oder vier Worte fortwährend wiederholen. Wir aßen. Catherine fragte Jakob aus, und Jakob saß da wie ein Schuljunge, der seiner Tante vom vergangenen Jahr erzählte. Er war nervös. Aber er mochte sie, das konnte man sehen.
Catherine fragte nach seiner Gemeinde, und er sagte: "Die jüdische." Toki musste lachen. Jakob erzählte, er besuche hier eine Schauspielschule, und Toki fragte, wie er Geld verdiene. "Ach, kleine Rollen. Privat. Jesus habe ich schon gespielt. Einen Soldaten an Davids Hof. Einen Architekten in einem Stück von Etgar Meret. Manchmal trete ich als Magier auf, unter dem Namen 'Abram Kadabram'."
"Toll. Kannst du zaubern?"
"Na ja..."
"Was denn?"
"Ich kann das Licht an- und ausmachen."
"Mach mal", sagte Toki.
Jakob stellte sich auf, griff nach seiner Kippa, hob den Finger - aber Catherine ging dazwischen: "Kein Feuer am Schabbat!"
Natürlich. Jakob setzte sich.
Ich ging auf die Toilette. Überall hatte Catherine absichtlich das Licht angelassen. Machte sie sonst nie, aber heute war ja alles koscher. Als ich das Bad verließ, drückte ich auf den Schalter. Ein Reflex. Auf der Schwelle zur Küche drehte ich um, ging zurück und drückte ihn noch einmal. Toki erzählte vom Orchester. Von seiner Klarinette. Vom eigenwilligen Dirigenten aus den Niederlanden. Vom Konzert in der Westbank.
Ein Heiligabendkonzert in der Westbank
Catherine versuchte, das Gespräch zurück aufs Judentum zu lenken. Jakob forderte Toki auf, die Klarinette zu holen und etwas zu spielen, aber das wollte Toki nicht. Auch nicht, als Jakob sagte: "Komm, es ist doch bald Weihnachten!" Da schaute Catherine komisch drein und Toki auch. Doch auch Toki mochte diesen Jakob wohl, das konnte man sehen.
Am Wochenende vor dem dritten Advent gingen wir zu einer Probe von Tokis Orchester. Er war in diesen Tagen wenig bei uns, weil sie unentwegt für ihr Konzert probten. Sagte er. Also sollten wir zu ihm kommen. Sie probten für das Heiligabendkonzert in der Westbank. Catherine und ich saßen im leeren Konzerthaus in der dritten Reihe und versuchten, Toki bei seinen Soli durch Blinzeln und Grimassen aus dem Konzept zu bringen.
Nach der Probe gingen wir mit den Musikern in eine Bar. Sie besprachen, wie sie in das Westbankdorf zum Heiligabendkonzert kommen wollten: mit einem Bus, in den sie in den ersten Sitzreihen die Ausländer und ein paar Leute von der EU oder dergleichen setzten, in der Hoffnung, dass die Soldaten am Checkpoint bei diesem Anblick den Bus nicht durchsuchten. Der Weihnachtsmann? Haben wir einen? Ja, nein. Alles ausgebucht. Bald Weihnachten. Aber ein Kostüm ist vorhanden. Am Ende muss der Dirigent ihn selber spielen. Oder der Pfarrer.
Als die Musiker gingen, begannen Catherine und Toki neue Geschichten von Jakob zu erzählen. Toki hatte ihn beim Einkaufen im Supermarkt im Keller des City-Towers an der King-George-Straße gesehen - und ihn gleich zu seinem Konzert an Heiligabend eingeladen. Catherine hatte bei ihm geklingelt, weil ihr beim Kochen Zucker und ein Ei fehlten. Am Ende hatte er ihr einen Kaffee aufgebrüht und Kekse serviert.
Die Birne der Straßenlaterne brennt durch
Dann erzählten sie beide noch etwas sehr, sehr Komisches: Jakob, Abram Kadabram, hatte ihnen seinen Trick gezeigt, den mit dem Licht, das er an- und ausmachen konnte. Toki im Supermarkt und Catherine in seiner Wohnung. Und, was soll man sagen, er konnte es tatsächlich. Im Supermarkt hatte eine der Leuchtstoffröhren angefangen zu zittern und war mit einem "Klick" ausgegangen. In seiner Wohnung war von einem Moment auf den anderen der Hängeleuchter im Gang erloschen. Ich legte 50 Schekel auf den Tisch und ging nach Hause.
Ein Taxi wartete vor der Tür mit laufendem Motor. Ich war noch ein paar Meter entfernt, da huschte eine Gestalt in den Hauseingang. Eine Gestalt mit rotem Mantel. Das Taxi fuhr weg. Ich wartete einen Moment und sah auf unser Haus. In Jakobs Wohnung ging das Licht an. Abram Kadabram war wieder zu Hause. Zwei Minuten später öffnete sich die Balkontür. Ich trat einen Schritt näher zum Haus hin. In der Straßenlaterne über mir brannte die Birne durch.
Ich haderte ein paar Tage mit meiner Entdeckung, dachte darüber nach, Toki einzuweihen oder Catherine, aber gerade Catherine wollte ich nichts davon erzählen. Ob ich das alles richtig verstanden hatte?
Ich legte mich auf die Lauer. Von einem Café ein paar Meter neben unserem Haus konnte man die Tür und was vor ihr passierte sehr gut beobachten. Ich sah von dort sogar ein Fenster von Jakobs Wohnung - er hatte die Angewohnheit, ein kleines Licht brennen zu lassen. Ich nahm mir Bücher und einen Laptop mit und sagte Pascal, dem Wirt, ich müsse eine Hausarbeit schreiben.
Ich sah:
- Catherine, die zu ihren Kursen ging und zurückkam.
- Toki, der mit seiner Klarinette wegschlenderte.
- Den Postboten.
- Die Familie aus dem Parterre, die sich unentwegt stritt.
- Jakob auf dem Weg zur Schauspielschule.
Am Nachmittag vor dem Schabbat hatte ich Glück: Ein Taxi hielt vor unserem Haus, direkt an der Tür. Der Fahrer machte den Motor nicht aus. Ich setzte mich näher zur großen Frontscheibe des Cafés. Nach zwei Minuten öffnete sich die Haustür und Jakob kam heraus mit einer dicken Sporttasche. Er stieg ein, das Taxi fuhr los. Ich packte meine Sachen und ging.
Alle Männer waren nur eine Vorbereitung auf diesen einen
In unserer Küche saß Catherine und lernte Hebräisch. Toki hatte eine Probe und sollte erst spät nach Hause kommen. Catherine erzählte mir eine neue Geschichte von Jakob, schwärmte mir vor, wie kultiviert er sei und wie humorvoll und dass all die Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, nur eine Vorbereitung auf diesen einen gewesen seien. Ich setzte mich so hin, dass ich durchs Küchenfenster die Straße sehen konnte.
Nach zwei Stunden ging Catherine schlafen. Ich zog mir einen Mantel an und stellte mich mit ein paar Sonnenblumenkernen auf den Balkon. Gegen zehn kam ein Taxi. Es hielt, und Jakob stieg aus. Ich huschte ins Treppenhaus. Als Jakob auftauchte, wollte ich ihn abpassen. Aber als ich gerade ansetzte, öffnete sich seine Wohnungstür. Aus dem Innern drang dieses funzelige Lichtlein. Eine Gestalt zeichnete sich ab. Die Gestalt und Jakob umarmten sich, die Tür fiel zu. Das Licht war schlecht gewesen, aber nicht schlecht genug, als dass ich diese Gestalt, als dass ich Toki nicht erkannt hätte.
Irgendwann in der Nacht, ich lag schon im Bett, kam Toki nach Hause. Als wir wieder gemeinsam am Abendbrottisch saßen, Catherine, Toki und ich, stellte ich fest: "Ihr habt einen Weihnachtsmann gefunden?" Toki wurde bleich. "Ja", sagte er. Sonst nichts.
Der Treffpunkt an Heiligabend war der Busbahnhof hinter dem Damaskustor, 14 Uhr. Der Gottesdienst mit Konzert und Weihnachtsmann sollte um 18 Uhr beginnen. Toki hatte es nicht fertiggebracht, Catherine zu erzählen, dass Jakob sicher nicht besonders religiös war.
Und das andere auch nicht. Wir alle durften nun in diesem einen Bus mit den Musikern in die Westbank fahren. Wir, also Catherine, Toki, das Ensemble, ich und Jakob, der Weihnachtsmann. Abram Kadabram. Das musste ich verhindern. Wenn sie es erfahren sollte, dann nicht an diesem Tag. Ich mochte Catherine ja. Und alle anderen Beteiligten auch, außer Jakob vielleicht. Um 13 Uhr sagte Catherine zum ersten Mal, wir müssten uns jetzt beeilen. Ich rief meine Mutter in Deutschland an und tat so, als hätten wir etwas sehr, sehr Wichtiges zu besprechen. Als sie aufgelegt hatte, hielt ich den Hörer noch ein paar Minuten trocken in der Hand. Ein Blick auf die Uhr: 13.15.
Drei verpasste Anrufe
Mir fiel ein, dass ich noch duschen musste und mich rasieren. Catherine protestierte. Ich duschte und ließ das Wasser weiterlaufen. 13 Uhr und 25 Minuten. Catherine bollerte gegen die Badezimmertür. Vor der Tür bemerkte ich, dass mein Mobiltelefon in der Wohnung lag. Also noch mal zurück.
Wir gingen Richtung Damaskustor. Zum Glück war Catherines Orientierung nicht so gut, also stolperte ich mutwillig in die verkehrte Straße. Am Katzenplatz kapierte Catherine, dass wir falsch waren, und zerrte mich ins nächste Taxi. 13 Uhr und 50 Minuten.
Immerhin war auf den Fahrer Verlass. Er fuhr einen komplett unsinnigen und viel zu langen Weg. Ich rief hin und wieder hirnrissige Hinweise nach vorn. Wenn er auf mich gehört hätte, wären wir schon auf der Straße zum Toten Meer gewesen. Es war bereits 14.10 Uhr.
Ich sah auf mein Telefon. Drei verpasste Anrufe von Toki. Wir näherten uns dem Damaskustor. Auf der großen Freitreppe gegenüber dem Portal verkauften fliegende Händler ihr Zeug: Brot und Plastikspielzeug, ein anderer briet Falafel in Öl, jemand hatte eine Pyramide aus Melonen aufgebaut. Mein Telefon vibrierte. Wieder Toki. 14 Uhr und 15 Minuten.
"Ja?"
"Wo seid ihr? Es ist schon Viertel nach zwei!"
"Am...Tor", sagte ich und schritt vorsichtig rückwärts Richtung Melonen. "Wir fahren jetzt", rief Toki. "Gleich sind wir da", sagte ich und kickte mit der Hacke nach einer Melone. Sie löste sich aus der Pyramide. Vierzig Melonen rollten die Treppe hinunter. Sie zerknickten Plastikspielzeug, der Falafel-Mann musste sich schützend vor sein heißes Öl stellen. Die Händler gestikulierten, wir waren umringt von Leuten und kamen nicht vom Fleck. Als der Tumult uns wieder ausspuckte, war es 14.25 Uhr. Den Bus hatten wir verpasst. Catherine sprach zwei Jungs an, die an einem Taxi-Kleinbus lehnten. Ich blickte abwesend ins Nichts.
Welche Wahl hatte ich? Keine.
Das christliche Dorf lag irgendwo in der Nähe von Ramallah, also fuhren wir nach Ramallah, beschloss Catherine. Als der Bus dort hielt, war es vier. Um sechs sollte der Gottesdienst beginnen. Wir irrten zwanzig Minuten durch die Gegend, ich versuchte, im Kreis zu gehen und Resignation zu verbreiten. Ein Polizist, der ein wenig Englisch sprach, schickte uns zum Central Bus Stop - ein Rohbau, in dessen Innern ein Dutzend Taxis warteten: Volkswagen-Transporter, Sportcoupés, ein Mercedes, Kleinwagen.
Wir nannten dem Mann im ersten Auto den Namen unseres Dorfes. Er nickte und wies mit der Nase zum nächsten Auto. Auch der schickte uns weiter. So ging das etwa zwanzig Minuten lang. Vielleicht hatte ich doch noch Glück und hier war Endstation. Wir gingen raus auf die Straße und sahen uns um. Hinter uns bremste ein japanischer Kombi, der gelb wie ein Taxi angemalt war - der Fahrer hupte. Er hielt sich ein Mobiltelefon ans Ohr und rief den Namen unseres Dorfes. Wir blickten ihn unsicher an. Catherine stieg ein. Welche Wahl hatte ich? Keine.
Der Heilige Abend fiel langsam über die Westbank, am Himmel zeichnete sich der Mond ab. Hin und wieder stand am Straßenrand eine Laterne, an den Minaretten der Moscheen gingen grüne Neonröhren an. Doch sie gingen auch wieder aus. Und wieder an. "Electricity problem", sagte der Fahrer.
Halb sechs. Am Straßenrand kehrte das Licht zurück in die Laternen und Häuser. Ich dachte nach, was ich jetzt noch tun könnte, um unsere Ankunft zu verhindern. Sechs Uhr. Unser Fahrer bremste, kassierte und fuhr weg. Wir wanderten durch das Dorf...und mit einem Knacken erloschen wieder alle Lichter. Wir hasteten einen Abhang hinunter, gingen durch einen Torbogen. Gegen den Himmel zeichnete sich ein Kirchturm ab. Hundert Lichter geisterten drinnen durcheinander: der blaue Schimmer von Mobiltelefonen, die schwachen Kegel von Taschenlampen, überall Kerzen. Wir setzten uns in die letzte Reihe. Die Kirche war festlich geschmückt mit Girlanden und Engeln und Zypressen statt Weihnachtsbäumen. Mittendrin vermutete ich Toki mit seiner Klarinette.
Der Dirigent aus den Niederlanden hob die Hände. Das Orchester begann zu spielen. Telemann oder Schubert oder Haydn. Nach zwei Minuten erhob sich wieder das Gequassel der Dorfjugend, die Mobiltelefone klingelten, Catherine schimpfte und zischte, dass diese Jugendlichen das Konzept eines klassischen Konzerts nicht verstanden hätten. Und wo war eigentlich Jakob?
Keine Spur von Jakob
Nach einer halben Stunde ohne Zugabe trat das Orchester von der Bühne und der Kinderchor stellte sich an seine Stelle, dazu ein junger Mann mit Keyboard. Toki nahm in der ersten Reihe Platz. Von Jakob nichts zu sehen.
Der Kinderchor begann zu singen. Vom Keyboard brummten englische Weihnachtslieder mit Gesang, die Kinder schmetterten einen arabischen Text darüber. Sie sangen tatsächlich "Jingle Bells" und "Gloria in excelsis deo". Der Strom fiel zum zehnten Mal heute aus, aber die Kinder sangen einfach weiter.
Catherine blickte versteinert zu Boden. Toki war verschwunden. Nach dem letzten Lied wankte ein Weihnachtsmann herein und verteilte kleine Geschenke an die Kinder. Er verbeugte sich, sah kurz zu uns und verschwand durchs Seitenschiff, durch die kleine Seitentür in den Hof.
Nach dem Gottesdienst stand ich mit Catherine vor dem Hauptportal der Kirche. Eltern scheuchten ihre Kinder nach Hause, es regnete. Hinter mir hörte ich erst vorsichtige, dann nervösere Stimmen. Sie riefen sich erstaunt etwas zu, auf Arabisch. Ich sah, wie die Kinder zurück in die Kirche liefen.
Ich folgte ihnen. Sie reckten sich und feixten leise-laut flüsternd und sahen zur Tür, einige wandten sich ab und liefen erschrocken zurück zu ihren Eltern. Andere konnten sich kaum sattsehen, was auch immer da nun zu sehen war. Es schien, als liefe im Hof das Christkind Schlittschuh. Die Seitentür stand einen Spaltbreit offen. Ganz vorn musste ich zwei Jungs zur Seite drücken, die Bilder mit ihren Handykameras schießen wollten.
Im Hof, erleuchtet vom Scheinwerfer, stand Toki und küsste den Weihnachtsmann. Ich begann zu schwitzen. Ich hörte Catherine hinter mir, sie kam angelaufen, sie fragte, was denn los sei. Ich spürte ihre Hand an meiner Schulter. "Santa Claus!", schrie einer der Jungs. In diesem Moment machte es "Zisch". Der Scheinwerfer im Hof brannte endgültig durch.
Leicht gekürzte Fassung aus: Dietmar Bittrich (Hg.): "Aber erst wird gegessen. Schon wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft." Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg; 320 Seiten; 9,99 Euro

Dietmar Bittrich (Hg.):
Aber erst wird gegessen
Schon wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft
rororo;
320 Seiten; 9,99 Euro.