WG mit Opa Warum Lulu umsonst bei David wohnt
"Die Deutschen sind so...so... oh". Sie runzelt die Stirn, verstummt im Satz, ihre Augen wandern durch das Zimmer. Lulu kommt einfach nicht auf das richtige Adjektiv. David Bauer stupst die 21-Jährige sanft in die Seite. "Was willst du sagen - höflich?" Die Chinesin lächelt dankbar, ihr Deutsch ist noch nicht so perfekt. "Ja, ich finde, so gehen die Deutschen miteinander um: höflich!"
Wenn Lulu nach dem richtigen Wort sucht, hilft David Bauer, ihr neuer Mitbewohner, gern weiter. "Weil auf diese Weise mein Denkapparat nicht einrostet". David Bauer ist 82 Jahre alt.
"Wohnen für Hilfe" heißt das Projekt, das Lulu Liu, die junge Studentin aus der Provinz Hunan im Süden Chinas, und David Bauer, den Rentner aus Münster, zusammengeführt hat. Seit Mitte August bilden die beiden eine ungewöhnliche WG. Solche "Wohnpartnerschaften zwischen Jung und Alt" vermittelt die Stadt Münster seit gut einem Jahr: Ältere Menschen mit großen Wohnungen oder Häusern, die sie selbst nicht mehr vollständig nutzen, nehmen Studenten bei sich auf, die ihnen im Garten oder Haushalt helfen - und dafür maximal die Mietnebenkosten zahlen. Faustregel: Pro Quadratmeter Wohnfläche soll der Student eine Stunde im Monat arbeiten.
Dabei sollten die eingesparten Euros nicht die Hauptmotivation für die jungen Akademiker sein, betont Christa Reiffer vom Münsterschen Amt für Wohnungswesen: "Wenn es einem Studenten ausschließlich darum geht, kostenlos zu wohnen, funktioniert eine solche WG nicht." Deshalb führt die Projekt-Betreuerin mit jedem Interessenten vorab persönliche Gespräche. "Es muss ein ganz vitales Interesse an der älteren Generation bestehen." Die Senioren müssen ihrerseits den Studenten genügend Verständnis entgegen bringen - "ohne Neid auf junge Menschen, ohne unaufgearbeitete Probleme mit den eigenen Kindern".
Wie eine Tochter angenommen
Bei Lulu Liu und ihrem Vermieter hat's gepasst. "Lulu war frisch und frei weg - das gefiel mir so gut, dass ich sie gleich fragte, wann sie einziehen kann", sagt David Bauer und streicht sich eine schneeweiße Haarsträhne aus der Stirn. Der ehemalige Bankkaufmann, der sich früher mit einer eigenen Firma auf die Finanzierung von Erdölbohrungen spezialisierte, war oft auf Reisen in China und kocht am liebsten chinesisches Essen. "Da habe ich Lulu wie eine Tochter angenommen."
Im vergangenen März starb Bauers Frau, der alte Herr fühlte sich auf den 140 Quadratmetern seines Hauses mit großzügigem Gartens allein nicht mehr wohl. "Mir fiel die Bude auf den Kopf, ich bin jeden Tag in die Uni-Mensa gegangen, um unter Leute zu kommen. Irgendwie war das ein Lotterleben."
Als er eines morgens den Flyer der Stadt in seinem Briefkasten fand, die so für ihr Projekt warb, "war ich von der Idee gleich fasziniert". Ebenso seine verheiratete Tochter Brigitte Sasse, 45, die seit dem Tod ihrer Mutter mit einem schlechten Gewissen lebte. "Mein Vater wollte, dass ich mit meinem Mann und meinem Kind wieder bei ihm einziehe, wir konnten uns das aber nicht vorstellen." Seit Lulu da ist, habe sich das Verhältnis wieder entspannt.
Seit über einem Jahr lebt Lulu Liu in Deutschland, erst einige Monate am Bodensee und in Berlin, wo sie deutsche Sprachkurse besuchte. Dann bestand sie die Aufnahmeprüfung am Studienkolleg in Münster. Dort belegt das zierliche Mädchen mit den braunen Augen und den schulterlangen schwarzen Haaren neben Deutsch auch Fächer wie Englisch, Mathe und Wirtschaft. Ab Sommersemester 2007 will Lulu in Münster BWL studieren.
Bis es soweit ist, muss sie noch eine ganze Menge pauken. Das rappelige Studentenwohnheim, in dem sie zunächst in Münster gewohnt hatte, war nicht gerade der beste Ort dafür. David Bauers Haus in der ruhigen Stadtrandsiedlung gefällt ihr viel besser.
Täglich ein Apfel für die Gesundheit
Auf dem großen Esstisch im lichtdurchfluteten Wohnzimmer breitet Lulu spätnachmittags, wenn sie vom Studienkolleg nach Hause kommt, ihre Bücher aus. Dann setzt sich David Bauer dazu und schaut ihr bei Hausaufgaben über die Schulter. Bis es früher Abend ist und Lulu die Küche entert - Kochen gehört zu ihrer Hauptaufgabe, "am besten täglich was mit Gemüse. Und viel, viel Reis - der ist gesund", sagt die Studentin. David Bauer freut sich: "Außerdem sorgt sie dafür, dass ich jetzt immer einen Apfel am Tag esse, das habe ich früher nie gemacht."
Pflegeleistungen für ältere Mitbewohner soll "Wohnen für Hilfe" nicht umfassen und über Einkaufen, Garten- und Hausarbeit oder gemeinsame Gänge zum Arzt nicht hinausgehen - laut Stadt geht es vor allem um eine "soziale Gewinnsituation". Rund 50.000 Studenten und 46.000 Menschen ab 65 gibt es in Münster. Bisher hat das Amt für Wohnungswesen 16 Partnerschaften vermittelt. Zwei wurden wieder aufgelöst: Ein Student zog weg, "im anderen Fall hatte sich eine Seniorin überschätzt - ihr war der Kontakt, das gemeinsame Miteinander unter einem Dach dann doch zu nah", sagt Projektbetreuerin Christa Reiffer.
Sonst hat sie "bisher nur positive Erfahrungen gemacht - es ist eine Bereicherung, eine Belebung für beide Seiten". Unter dem Namen "Homeshare" startete das Wohnkonzept schon zu Beginn der neunziger Jahre in England und Spanien, in Deutschland bald an der FH Darmstadt und wird heute in zehn weiteren Städten angeboten.
Lulu fühlt sich in ihrer neuen Umgebung "sehr wohl". Im Obergeschoss des Hauses von David Bauer bewohnt sie das ehemalige Balkonzimmer der Tochter, das noch voll möbliert war. "Ich hatte nur einen Koffer beim Einzug dabei", sagt Lulu bescheiden. Nun kann sie alle Räume mitbenutzen, guckt mit ihrem Vermieter abends "am liebsten Daily-Soaps" im Fernsehen und geht morgens auch mal mit ihm "eine Runde laufen". Bei Arztbesuchen braucht sie David Bauer aber nicht zu begleiten, der Rentner winkt ab: "Das schaffe ich schon noch alleine!"