Zwei Fächer, zwei Welten Islam vs. Integral

Christina Schmitt (links) mit Laura Mundt: Noch lacht sie - VOR der Mathe-Vorlesung
Foto: Moritz EsserChristina und Laura wohnen in einer WG Tür an Tür. Wenn die eine Sorgen hat, muss sie die andere nicht anrufen - sie kann direkt vorbeikommen. Über alles können die beiden quatschen, Männer, Partys, den Abwasch.
Und doch gibt es eine Sache, bei der völliges Unverständnis herrscht: Laura studiert in Freiburg Mathe und Physik auf Lehramt, Christina Geschichte und Islamwissenschaft auf Bachelor. Wie die andere arbeitet und warum ihr Studienfach spannend sein soll, wollen sie nun testen. Und verabreden sich zum Selbstversuch: Laura setzt sich zu Christina in eine Islamvorlesung, Christina besucht mit Laura eine Algebrastunde.
Pflicht für beide: dem Prof mindestens eine inhaltliche Frage stellen - und dabei nicht allzu hilflos gucken.
Mathe und Realität - eine Rechnung, die nicht aufgeht: Christina in Lauras Vorlesung über "Lineare Algebra 2"

Studentin Christina: Algebra? Hauptachsentransformation? Bahnhof!
Foto: Moritz EsserWenn Laura Kommilitonen in unsere WG einlädt, sprechen sie oft von Ana, Ela oder Theo. Am Anfang dachte ich, das wären irgendwelche Freunde. Mittlerweile weiß ich, es geht um Mathe oder Physik, vielleicht auch um beides. Mitreden kann ich eigentlich nie. Auch heute nicht.
Wir sind mit dem Fahrrad zum Institutsviertel gefahren und wollen uns eine Mathevorlesung anhören. Als wir den Hörsaal betreten, wird aus Laura, meiner Mitbewohnerin, Laura, die Mathe- und Physikstudentin. Eben hatten wir uns noch über Männer unterhalten, jetzt stehe ich da und staune: Laura quasselt in einer Fremdsprache aus Zahlen und Brüchen mit zwei Kommilitonen (Andi und Andi) los. Sie vergleichen ihre Hausaufgaben, sie reden über Ana(lysis), (E)LA (Lineare Algebra) und Theo(retische Physik) wie über das Wetter.
Wer Mathe und Physik studiert, der muss ackern. Während ich mir meine Veranstaltungen relativ frei wählen kann, hat Laura einen festen Stundenplan: Von neun Uhr morgens bis 16 Uhr sitzt sie in Veranstaltungen. Danach werden bis in den Abend Aufgaben gerechnet.
Ich bin hier wohl die erste, die etwas fragt
Ich bin heute besonders früh aus dem Bett gekrochen, um mit ihr zu "Ela" zu gehen, zur Einführung in die Lineare Algebra. In diesem Teil der Uni kenne ich mich gar nicht aus. Zusammen mit Andi und Andi gehen wir in ein rundes Gebäude aus den sechziger Jahren. Im Saal sind vielleicht 150 Zuhörer, mehr Jungs als Mädchen. Senioren sind hier keine.
Der Dozent kommt in den Raum gehechtet, das Muster auf seinem Hemd erinnert an alte Blumentapeten. Er läuft durch die weiße Suppe aus Tafelwisch, schnallt sich ein schwarzes Kästchen um den Hals, bläst die Backen auf und prustet ein paar Mal hinein. Im Raum ein lautes Krachen: Jawohl, das Mikro funktioniert. Laura erzählt, er habe auch schon mal in das Mikro gerülpst. Die Kreide wandert schnell über die Tafel, das Thema heute: "Satz über Hauptachsentransformation".
Gequatscht wird immer noch, unbeirrt malt der Dozent seine Aufgabe an die Tafel. Andi 1 neben mir ist verwirrt: "Warum ist denn der Index davon s?", fragt er. Andi 2 zuckt mit den Schultern, fragen wollen sie den Prof beide nicht. Ein paar Studenten runzeln die Stirn, andere hören lieber Musik oder lesen ein Buch.
Zwischen Bi-Linearformen und der Orthonormalbasis komme ich mir ganz schön verloren vor. Ich würde mich nun gerne von der Vorlesung ablenken und lieber wieder über Männer quatschen, doch Laura schreibt eifrig mit. Sie zu stören, wäre gemein. Wer Mathe und Physik studiert, der bekommt später auf jeden Fall einen Job. All das Gerechne sei gefragt in der Berufswelt, heißt es. Aber wofür ist dabei der "Satz über der Hauptachsentransformation" gut? Ich hebe den Arm. Der Professor redet weiter. Ich rufe.
Realität? Wieso Realität? Wir machen hier Mathe
Verdutzte Gesichter, ungläubig schauen Lauras Kommilitonen zu mir. Laura grinst, sie weiß ja, dass ich eine Frage stellen muss. Auch der Dozent blickt nun zu mir, doch weder ungläubig, noch genervt. Durchatmen, stell die Frage, sage ich mir: "Für was, bitte, kann man solche Rechnungen in der Realität gebrauchen?"
Lachen schallt durch den Raum. Jetzt versteh ich gar nichts mehr. Vielleicht war die Frage zu gehässig, denke ich. Aber nein, er antwortet. "Schauen Sie, das ist doch ganz klar, nich?", sagt er und dreht sich zur Tafel. Ich denke und hoffe es auch, dass er nun von der Aerodynamik bei einem Düsenjet spricht. Aber nein. Er malt eine Formel an die Tafel: 17xy+3y²-24zx=q (x,y,z). So schaut also die Realität aus.
Seine Erklärungen brauche ich mir nun gar nicht mehr anzuhören, verstehen werde ich sie sowieso nicht. Ich drehe mich zu Laura und frage sie, ob die Frage wirklich so dumm gewesen sei - und warum mich alle ausgelacht haben. Sie grinst, das macht sie heute gerne. "Realität? Mädchen, die gibt's in Mathe nicht."
Zwischen Jallah-Jallah und dem letzten Promitratsch: Laura bei Christinas Vorlesung über "Kultur und Religion des Islam"

Studentin Laura: Zu viele Unbekannte in der islamischen Rechnung
Foto: Moritz Esser"Christina, wir müssen los!", rufe ich aus dem WG-Flur. Wie immer bin ich diejenige, die auf sie wartet. Ihre Islamvorlesung scheint sie ja nicht so ernst zu nehmen. Montag 17.45 Uhr, eigentlich nicht meine Uhrzeit, um zur Uni zu gehen. Aber an der Philosophischen Fakultät kommt man anscheinend erst spät aus dem Bett.
Trotz Christinas Trödelei kommen wir pünktlich zur Vorlesung. Es ist Neuland für mich - ein alter Bau, an der Front steht "Die Wahrheit wird euch frei machen". Der Hörsaal ist vielleicht halb so groß wie bei meinen Vorlesungen, die Reihen sind trotzdem nicht voll. Etwa 40 Mann sind da.
Eigentlich hatte ich mit mehr Muslimen gerechnet, doch weder Kopftücher erblicke ich, noch - um die gängigsten Klischees abzudecken - irgendwelche potentiellen Selbstmordattentäter. Dafür sitzen viele Bärtige im Publikum: mindestens ein Viertel der Studenten sieht aus, als hätten sie die Geschichte des Islam noch live miterlebt. Ich überschlage, das Durchschnittsalter liegt etwa bei 35. Hilfe. Ich kann mir unter "Religion und Kultur des Islam" nicht wirklich viel vorstellen, also bin ich wenigstens halbwegs gespannt, was jetzt auf mich zukommt.
Ali hat gesagt, dass Achmed gesagt hat, dass er von Omar gehört hat...
Der Dozent betritt den Raum und lehnt sich gemütlich an das Rednerpult. Ein schmächtiges Männlein mit runder Brille und dunklem Bart. Dass er angefangen hat zu reden, merke ich vor allem daran, dass sich seine Lippen bewegen - so leise spricht er. Einige bitten ihn, sein Mikro lauter zu stellen. Weil er damit völlig überfordert ist, lässt er es lieber. Christina ruft in den Raum: "Können Sie vielleicht einfach lauter sprechen?" Er will es versuchen, sagt er.
Dass ich ihn jetzt höre, heißt aber noch lange nicht, dass ich ihn verstehe. Ein Wort wiederholt er sehr häufig, es scheint heute um Hadithe zu gehen. Er spricht von irgendwelchen Überlieferungsketten und wie gutartig dieser oder jener Hadith sei. Ich kapiere gar nichts.
Christina erbarmt sich irgendwann und gibt mir eine Hadith-Einführung für Dummies: Es gebe Überlieferungen von Mohammed, die dabei helfen können, den Koran zu deuten oder Fragen zum Islam zu klären. Das sind die Hadithe. Und die hören sich so an: Ali hat gesagt, dass Achmed gesagt hat, dass er von Omar gehört hat, dass dieser von Aisha weiß, dass der Prophet Mohammed immer im Sitzen bete. Okay. Was der Prophet mache, sei der Inhalt des Hadith; was die Überliefererkette angehe, so zeuge sie von der Gutartigkeit des Hadith. Nicht okay.
Jeder macht brav sein Bachelorkreuzchen
Für meinen Geschmack sind das ein bisschen viele Unbekannte in der Rechnung, glaubwürdig ist das auf keinen Fall. Und daraus soll eine eigene Wissenschaft entstanden sein? Wer bitte hat denn Lust, sich mit so etwas zu beschäftigen? Christinas Kommilitonen wohl kaum: Ein blondes Mädchen studiert lieber den neusten Promiklatsch in der "Intouch", die Jungs daneben schreiben Zettel. Ich kann sie nur zu gut verstehen: Der Dozent redet monoton, spricht von Rechtshadithen, ohne ein Beispiel zu nennen. Langweiliger geht's kaum.
Ich hebe den Arm, der Dozent lächelt - vermutlich freut er sich über Beteiligung. "Können Sie bitte ein Beispiel für einen Rechtshadith nennen?", frage ich. Die Antwort erschlägt mich: Er wirft mir einen Satz auf Arabisch an den Kopf. Hilflos blicke ich zu Christina, die zuckt mit den Schultern. Nein, sie hat das auch nicht verstanden. Dabei lernt sie doch Arabisch.
Dass hier kaum jemand seine Erklärung zu deuten weiß, scheint der Dozent in Kauf zu nehmen. Oder er weiß einfach nicht, dass viele der Studenten hier kein Arabisch können. Oder es nicht so gut sprechen, wie sie müssten?
Als dann die Anwesenheitsliste an mir vorbeigeht und jeder brav sein Bachelorkreuzchen macht, wird mir klarer, warum die Leute hier sind: Sie müssen.